Nightshifted
Ich sah mich noch einmal genauer um. Warum lieà mich das
nicht los? Mir blieb immer noch die Möglichkeit, einfach zu gehen und so zu
tun, als hätte ich das alles nicht gesehen. Aber â ich konnte einfach nicht
anders. Ich wusste nicht, was dieses »Gerettet« genau bedeutete, aber ich hatte
so eine Ahnung, warum er sie rettete. Um an sie heranzukommen. An Anna. Nur, dass er es bis zuletzt
nicht geschafft hatte.
Meinetwegen.
Ich kniete mich hin und blätterte die Akten in den
anderen Kartons durch, die nicht mit dem Vermerk »Gerettet« versehen worden waren,
dann verteilte ich die Fotos um mich herum auf dem Boden, bis ich sie
schlieÃlich gefunden hatte.
Anna. Das Mädchen von seinem Foto, das ich immer noch
in der Tasche hatte. Die Bilder umfassten fast ein ganzes Jahrhundert, angefangen
mit Porträts einer fünfköpfigen Familie, bis die anderen Mitglieder nach und
nach verschwanden und sich die Fotos in pornografische Aktaufnahmen
verwandelten. Erst Aufnahmen in Sepiatönen, dann Schwarz-WeiÃ-Postkarten,
farbige Polaroids und schlieÃlich Ausdrucke von Digitalfotos.
Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie
grauenhaft es sein musste, wenn die einzigen Lebenszeichen eines geliebten
Wesens Fotos waren, auf denen die Person erniedrigt wird â während man die
ganze Zeit hofft, irgendwann eine Decke mit einer Wand in Verbindung bringen zu
können, eine Wand mit einem Haus, ein Haus mit einer Person, bis man den Gesuchten
endlich befreien kann.
»Und wo ist sie?«, fragte ich das stille Zimmer. Dass
ich hierhergekommen war, der Tod von Mr. November, das alles musste doch einen
Sinn haben. Musste es einfach. »Er wusste es, und ihr habt sie gesehen. Verflucht
noch mal, ihr seid sie. Wo ist sie?«
Ihre Augen starrten mich schweigend an, anklagend und
traurig. Das konnte nicht das Ende sein.
»Verdammt, Edie«, flüsterte ich und schlug mit
geballten Fäusten auf den Teppich. Meine linke Hand brannte. Mir stiegen Tränen
in die Augen, die ich hektisch wegblinzelte, während ich mir die Handschuhe
auszog. Der Bluterguss hatte die Eddinglinie weit überschritten, umfasste jetzt
meinen gesamten Daumen und zog sich in Form von dunklen Striemen Richtung
Handfläche.
Und dann raschelte etwas hinter mir, gefolgt von
einem reiÃenden, zerrenden Geräusch. Panisch drückte ich mich mit dem Rücken an
die Wand und starrte auf den abgewetzten Teppich. Meine Hände gruben sich in
seine dünnen Fasern, eine durch den Bluterguss fast schwarz, die andere mit
leichenblass hervorstechenden Knöcheln, bis ich das Gefühl hatte, wieder allein
im Zimmer zu sein.
Die Filipinofrauen, mit denen ich früher
zusammengearbeitet habe, glaubten an Geister. Nachdem ich jetzt auf Y4 arbeite, sollte ich das
vielleicht auch tun.
Ich richtete mich auf und drehte mich um. Ein Teil
der Fotos war von der Wand gerissen worden, und nun lagen dunkle, verkrustete
Schimmelflecken frei, die aussahen wie alter Schorf. Zerfetzte Bilder bedeckten
den Boden und zeigten statt nur der Ausschnitte nun schmale Streifen Fleisch,
versiffte Matratzenecken und trostlose Blicke vor schwarzem Hintergrund.
»Es tut mir so leid.« Ich schob mich rückwärts
Richtung Tür, da ich vor lauter Angst und Scham dem Raum nicht den Rücken
zukehren wollte. »Es tut mir so unendlich leid.«
Ein kalter Luftzug fegte durch den Raum und wirbelte
die Fotos auf wie trockenes Laub. Und als der Windstoà durch mich hindurch und
aus der Tür hinter mir gefahren war, hatten sich die Fotofetzen auf dem Boden
zu einer Adresse und einem Namen geformt. Mir fiel wieder ein, was meine Oma
immer gesagt hatte â Mitleid allein hat noch niemandem geholfen. Also wischte
ich mir die staubigen Hände ab und griff nach meinem Handy.
Â
Drei Taxigesellschaften
und eine Kreditkartennummer später fand ich endlich jemanden, der mich hier
abholen würde. Ich sollte auf die Sekunde genau um sieben Uhr zwölf an der
StraÃe stehen, und falls ich dann nicht da war, würde man mit Freuden meine
Vorauszahlung behalten. Nachdem ich eingestiegen war, gab ich dem Taxifahrer
die nächste Adresse â die sich wesentlich von der unterschied, die ich am
Telefon genannt hatte.
»Sie wollen mich wohl verarschen.«
»Ich zahle Ihnen das Dreifache.« Entweder zog ich es
jetzt durch oder gar nicht.
Ich sah zu, wie er das zusätzliche Geld gegen seine
persönliche
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