Nina, so gefällst Du mir
verlassen. Der Schnellzug mit dem schönen Speisewagen, mit geräumigen, gepolsterten Abteilen, mit erstklassiger Bedienung entführte sie südwärts, und morgen – morgen sollte Katja zu Professor Fritzner kommen, morgen würde sie erfahren, ob der Professor überhaupt die Operation versuchen wollte.
Gunnars Augen ruhten auf den beiden Mädchenköpfen: Ninas hellblonden Locken und Katjas glattem, dunklem kurzgeschnittenem Kopf. Sie saßen über einen Bogen gebeugt, der mit Brailleschrift voll beschrieben – voll bepunktet war. Katjas kleine feinfühlige Finger glitten über den Bogen, und plötzlich lachte sie laut auf. „Nein, hört mal! Wißt ihr, was Nina geschrieben hat?“
„Pfui, Katja, nicht aus der Schule plaudern. Das ist doch nur eine Übung; es ist doch ganz gleichgültig, was ich schreibe.“
Aber Katja las laut vor: „Onkel Johann ist ein großer Engel. Katja ist ein kleiner Nichtsnutz. Gunnar ist ein richtiger Schlaks. Ich bin ein abgearbeitetes Hotelmädchen. Wir sind ein komisches reisendes Kleeblatt.“
„Wie viele Fehler habe ich gemacht?“
„Du hast gar keine Fehler gemacht“, sagte Katja. „Doch, übrigens ein Fehler ist da; wenn du nämlich sagst, Gunnar ist ein Schlaks. Gunnar ist lieb, daß du es weißt. Aber daß Onkel Johann ein Engel ist, das ist auf jeden Fall richtig.“
Der Onkel räusperte sich und ließ die Zeitung sinken. „Wenn der Nichtsnutz, der Schlaks und das Hotelmädchen Hunger haben sollten, so sagt es nur. Ich habe das Gefühl, die Mahlzeiten hierzulande liegen etwas merkwürdig. Wenn wir ein ordentliches Mittagessen haben und uns nicht mit kümmerlichen Resten abfinden wollen, dann müssen wir bald in den Speisewagen gehen.“
„Jetzt? Die Uhr ist doch erst“ – Katjas rechte Hand griff an die Armbanduhr, deren Glas auf geknipst werden konnte, und ein leichter kleiner Zeigefinger befühlte die Zeiger – „es ist doch erst um Viertel nach eins.“
„Ja, ich habe die Mahlzeiten hierzulande ja auch nicht eingeführt, mein Kind, ich kann nichts dafür. Wenn du an das kärgliche Frühstück denkst, dann…“
„Ich habe drei Rundstücke gegessen“, sagte Katja lebhaft, „und einen Haufen Marmelade. Aber eigentlich bin ich doch ein bißchen hungrig. Ich möchte nur…“ Sie flüsterte Nina etwas zu.
Nina lächelte, stand sofort auf und nahm Katja mit sich. Gunnar sah seiner Schwester und Nina nach. Der Onkel nickte ihm zu. „Ich glaube, wir haben ein gutes Kindermädchen für Katja gefunden, Gunnar.“
„Ja, Onkel Johann, Nina ist prachtvoll. Und was Katja für ein Zutrauen zu ihr hat.“
„Hast du mit Katja geredet, Gunnar?“
„Ja, ein bißchen. Ich habe es gleichsam beiläufig gesagt, wenn wir nach München kämen, gäbe es dort vielleicht eine Möglichkeit, einen besonders tüchtigen Arzt einmal ihre Narben ansehen zu lassen, die sie um das rechte Auge hat.
Es wäre möglich, daß er sie ein bißchen verschönern könnte. Und sie scheint es für bare Münze zu nehmen. Onkel Johann“ – Gunnar sah Espetun fest an – „Onkel Johann, wir spielen doch ein furchtbar hohes Spiel.“
„Ja, ist es eigentlich ein so hohes Spiel, Gunnar?“
„Ja – daß wir Mama nicht eingeweiht haben.“
„Aber du warst doch einverstanden!“
„Ich bin einverstanden, Onkel Johann, und ich finde, du hast alles wunderbar durchdacht. Ich bin noch immer nicht über den Schock hinweggekommen, als Nina mir erzählte – obwohl sie es nett und vorsichtig gemacht hat – und als sie mir Professor Fritzners Brief übergab. Onkel Johann, ich wage gar nicht an die Zukunft zu denken. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, daß Katja vielleicht… vielleicht…“
„Du sollst es dir auch nicht vorstellen. Wir wissen ja, daß die Chancen gering sind, aber…“
„Wenn sie nur so viel sieht, daß sie allein gehen kann.“
„Denke vorläufig nicht darüber nach, Gunnar. Nun müssen wir erst einmal hören, was der Professor morgen früh sagen wird.“
„Und die kleine Katja in einer Klinik, wo sie kein Wort von der Sprache versteht.“
Onkel Johann lächelte. „Wenn ich meine sprachbegabten Verwandten recht kenne, dann braucht Katja nicht sehr lange, um die zwanzig, dreißig wichtigsten Wörter auf deutsch zu lernen.“
Der Zug rollte durch das Maintal. Die Augustsonne glitzerte und schillerte im Weinlaub, und schwere Trauben hingen an den Reben.
„Es ist so schön draußen, Onkel Johann. Ich sage es nur nicht, wenn Katja es hören kann, verstehst
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