Nixenblut
was ich verbergen möchte.
Die schwarz gekleideten Menschen sind aus der ganzen Umgebung gekommen. Mum, Conor und ich sitzen in der ersten Reihe. Nur der Pfarrer sieht unsere Gesichter.
Der Chor singt, doch niemand hat so eine schöne Stimme wie Dad. Ich weiß noch, wie er sagte, er sänge lieber an der frischen Luft als im Kirchenchor. Dad würde es hier nicht aushalten. Er würde Granny Carne zuzwinkern und aus der Tür laufen. Fast muss ich lachen bei dem Gedanken, wie Dad von seinem eigenen Gedenkgottesdienst flüchtet, aber ich reiße mich zusammen.
Jetzt singen sie ein Lied für all die verschollenen Fischer und Seeleute, weil sie glauben, dass Dad ertrunken ist.
Mum singt nicht mit. Sie starrt unbeweglich vor sich hin, als der Gesang anschwillt. Ihre Lippen sind so hart aufeinander gepresst, dass alle Farbe aus ihnen gewichen ist. Wüsste man nicht, dass Mum traurig ist, könnte man denken, sie sei außer sich vor Wut. So sieht sie oft aus, seit Dad verschwunden ist. Es ist eine langsame, düstere, monotone Weise. Dad würde sie hassen. Er mag Musik, in denen das Leben zu spüren ist.
Ich schließe meine Augen und achte nicht auf das Kirchenlied. Dafür konzentriere ich mich auf eine andere Musik. Ja, jetzt glaube ich fast, Dads Stimme zu hören:
Ach wäre ich doch in Indigo
und teilte die salzige See
in den tiefsten Fluten …
Vielleicht ist es dort, wo Dad sich jetzt aufhält: in den tiefsten Fluten. Er ist in Indigo, wo immer Indigo auch sein mag. Dort werden wir ihn finden. Wenn es mir gelingt, einen Ton seiner Stimme festzuhalten, dann kann ich ihm folgen. Er wird der Faden sein, der mich zu ihm führt.
Das Lied ist verklungen. Die Leute hüsteln und zwängen sich raschelnd wieder in die engen Reihen. Die fette Bridget Jelbert quillt über das Ende ihrer Bank hinweg auf den Gang hinaus. Ich wende mich Conor zu und flüstere: »Wir werden ihn finden, nicht wahr?«
»Klar«, flüstert er zurück. »Mach dir keine Sorgen, Saph. Sollen sie weitermachen mit ihrem Gedenkgottesdienst, wenn es ihnen Spaß macht. Es bedeutet nicht, dass Dad tot ist. Ich weiß, dass wir ihn finden werden.«
In Indigo werden wir ihn finden, sage ich mir. In Indigo,
wie lange auch immer das dauern wird. Wir werden ihn finden, wie hart das auch sein mag.
Nein, ich werde nicht weinen. Ich lehne den Kopf zurück, damit die Tränen in meinen Augen bleiben. Ich spüre sie in der Kehle, während sie in meinen Mund laufen. Sie schmecken salzig. Ich schlucke sie hinunter. Dad lebt. Er würde nicht wollen, dass ich weine.
Drittes Kapitel
H underte von Jahren scheinen seit dem Gedenkgottesdienst vergangen zu sein. Doch tatsächlich sind es ein Jahr, ein Monat und ein Tag. Dreihundertsechsundneunzig Tage.
Manchmal, wenn ich erwache, denke ich für einen kurzen Moment, dass alles so ist wie immer. Ich meine, Dad unten oder im Badezimmer zu hören. Alles ist normal. Doch dann kommt die Wahrheit über mich wie eine dunkle Wolke.
Tagsüber zwinge ich mich, nicht daran zu denken, doch es funktioniert nicht immer, selbst wenn ich Dinge tue, die ich gern habe, wie schwimmen oder Schokoladenkuchen essen oder irgendwas am Schulcomputer entwerfen. Der Gedanke an Dad lässt mich nicht los; er ist wie ein schmerzhafter Bluterguss. Conor geht es genauso. In Mums Gegenwart reden wir nicht über Dad, weil sie das nur aufregt. Aber es geht ihr schon viel besser. Sie isst wieder richtige Mahlzeiten, steht nicht mehr mitten in der Nacht auf, um eine Tasse Tee nach der anderen zu trinken und stundenlang durch das Haus zu tigern.
Wir erzählen ihr nie, dass wir glauben, Dad eines Tages wiederzufinden. Sie würde uns doch nicht glauben.
Eine Zeit lang bin ich jedes Mal zum Telefon gerannt, wenn es geklingelt hat.
Ja? Hallo? Wer ist da?
Jedes Mal wenn es nicht Dads Stimme war, hatte ich das Gefühl, als seien plötzlich alle Lichter erloschen. Wenn der Briefträger kam, versuchte ich, als Erster bei der Tür zu sein, und riss ihm mit pochendem Herzen die Briefe aus der Hand. Doch auf den Umschlägen war nie Dads Handschrift zu sehen. Selbst wenn jemand an die Tür klopfte, wurde meine Hoffnung sofort lebendig. Aber warum sollte Dad an seine eigene Haustür klopfen?
Inzwischen tue ich diese Dinge nicht mehr. Das Klingeln des Telefons ist wieder ein ganz normales Klingeln, der Briefträger bringt wahrscheinlich nur irgendwelche Rechnungen und für das Klopfen an der Tür sind sicher die Nachbarn verantwortlich.
Weißt du, wie das Meer im
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