Nixenblut
»Nein, Conor ist heute nicht hier gewesen. Ist alles in Ordnung, Sapphire ?« ?
Ich gehe wieder ins Haus und stelle das Sieb mit den
Stachelbeeren auf den Küchentisch. Putzen werde ich sie später.
Das Haus scheint stiller als je zuvor. Ich finde keine Ruhe. Zuerst schalte ich den Fernseher an und dann gleich wieder aus, damit ich Conors Fahrrad höre, wenn er kommt. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass er vielleicht oben in seinem Schlafzimmer ist und schläft.
»Conor!«, rufe ich. »Conor?«
Womöglich hört er mich nicht, weil er die Bettdecke über dem Kopf hat. Ich laufe in mein Zimmer und klettere die Leiter zu Conors Raum hinauf, nun beinahe gewiss, dass er zusammengerollt unter seiner Decke liegt.
Doch sein Bett ist leer. Die Decke liegt auf dem Boden. Ich frage mich, ob er auf dem Kopfkissen vielleicht eine Nachricht für mich hinterlassen hat, so wie die Leute in Büchern das machen, aber natürlich hat er das nicht. Schließlich suche ich den ganzen Dachboden ab, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Ich bücke mich sogar und starre durch das kleine Fenster, das Dad eingebaut hat, nachdem er den Dachboden für Conor hergerichtet hatte. Er ließ mich damals auf dem Boden sitzen und ihm die Werkzeuge anreichen.
Nein , Sapphire, du darfst über so was nicht nachdenken. Das macht dich nur…
Dad ist nicht tot, das weißt du genau. Er ist…
Hör auf der Stelle mit diesem kindischen Geplärre auf.
Conors Fenster. Es geht direkt zum Meer hinaus. Im letzten Nachmittagslicht schimmert es blau, lila und aquamarin. Das Meer ist ruhig, doch unter der Wasseroberfläche wogt die Dünung. Am Horizont sieht man ein Fischerboot.
Auf Conors Dachboden ist es viel zu heiß und stickig. Wenn ich doch nur unten in der Bucht wäre. Dann könnte ich ins Wasser hineinlaufen und spüren, wie seine herrliche Kühle an meinem Körper emporsteigt. Ich würde so weit laufen, bis meine Füße sich vom Grund lösen, bis in die Mitte der Bucht schwimmen, mich auf dem Rücken treiben lassen und zum klaren Himmel hinaufblicken … Oder ich würde hinabtauchen, in die tiefsten Fluten, meine Augen öffnen und die Rippen betrachten, die der Gezeitenstrom auf dem Meeresgrund und den kleinen Muscheln zurücklässt. Ich könnte sehen, wie der rote und orangefarbene Seetang, der an den Steinen klebt, hin und her wogt, während die Flut kommt. Könnte beobachten, wie die Krabben davonflitzen, wenn sie meinen Schatten über sich spüren, oder kleinen Fischschwärmen zusehen, wie sie hierhin und dorthin jagen. Ich würde meine Hände zu einer kleinen Höhle formen, die sie durchschwimmen könnten …
Ich verliere mich in diesem Traum, obwohl ich hellwach bin. Das Meer fühlt sich stärker und wirklicher an als Conors Dachboden. Die weißen Wände scheinen davonfließen zu wollen. Das Wasser, das mich umschließt, flüstert mir etwas zu. Seine Stimme hebt und senkt sich wie das ewige Auf und Ab der Gezeiten. Ich will dieser Stimme folgen. Ich will auf das Meer hinaus und dem Land den Rücken kehren. Das Meer trägt mich mit sich fort, wie eine starke Strömung, die meine Beine erfasst und die Füße vom Boden löst.
Wäre ich doch nur in der Bucht. Ich muss dorthin. Auf der Stelle.
Viertes Kapitel
N och nie bin ich so schnell die Felsen hinabgeklettert, und das, obwohl sie nass und glitschig sind. Gerade wurden sie noch vom Wasser umspült, jetzt jage ich über sie hinweg. Das Meer ist eben noch hier gewesen, doch nun haben sich die Gezeiten umgekehrt. Das Wasser weicht zurück und zieht mich mit sich fort.
Mit einem Sprung erreiche ich den Strand, trete mir die Sandalen von den Füßen und stürme ins Wasser, das zuerst meine Zehen, dann meine Fußgelenke und im nächsten Moment die Knie umschließt.
Die See blendet mich. Als ich meine Hand hebe, um meinen Augen Schatten zu geben, sehe ich ihn. Es ist Conor. Er sitzt in weiter Entfernung auf den Felsen an der Mündung der Bucht. Ich erkenne ihn sofort, obwohl er mir den Rücken zukehrt. Seine Haare sind vom Wasser geglättet. Er war schwimmen! Aber wir schwimmen hier niemals allein, weil wir genau wissen, wie gefährlich das ist. Warum ist Conor ohne mich hierher gekommen?
Kalt. Mir ist kalt. Ich schaue an mir hinab. Das Wasser reicht mir schon bis zur Hüfte. Meine Hände gleiten durch das Wasser. Wie merkwürdig. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich so weit hineingegangen bin. Shorts und T-Shirt habe ich anbehalten. Die Ebbe zerrt immer stärker an mir, als wollte sie,
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