Nixenmagier
hier hat doch nichts mit den Gezeiten zu tun. Hier war eine viel größere Kraft am Werk. Eine ganze Insel ist untergegangen, Faro! Wie viele Dörfer hat es auf ihr gegeben? «
»Ich weiß es nicht, vermutlich einige.«
»Und wie viele Menschen sind ertrunken?«, sage ich, mehr zu mir selbst. Ich mag vielleicht Mer-Blut in mir haben, doch kein Mer-Blut könnte so stark sein, dass ich hier glücklich
bin. »Ist das nicht furchtbar?«, fahre ich fort, damit Faro versteht, was ich meine. »Diese Insel gehörte nicht zu Indigo und wollte das auch nie. Selbst heute ist sie kein wirklicher Teil von Indigo, weil alles tot ist.«
»Da irrst du dich aber!«, entgegnet Faro leidenschaftlich. »Jedes Jahr wird sie lebendiger. Sieh dir doch an, was hier alles wächst und wie viele Lebewesen sich im Wasser tummeln. «
Ich mag nicht mit ihm streiten. Außerdem weiß ich, dass wir ja doch nie einer Meinung sein werden. Ein Teil von mir sieht, was auch Faro erkennt: die Schönheit des wogenden Seetangs auf den Häusern, mit seinen dicken Stängeln und Wedeln, die wie weiche Blätter aussehen. Die glitzernden Fischschwärme, die Seeanemonen und Napfschnecken, die in den Ruinen ein Zuhause gefunden haben. Der Teil von mir, der zu Indigo gehört, findet dies alles wunderschön. Doch der menschliche Teil von mir denkt an all die Leute, die im Salzwasser ertrunken sind.
»Was ist los, Sapphire? Warum verziehst du so das Gesicht? «
Faro hat wirklich keine Ahnung. Er weiß zwar eine Menge über das Leben an Land, aber Tränen hat er offenbar noch nie gesehen.
»Ich bin einfach traurig. Das nennt man weinen .«
»Davon habe ich schon gehört«, sagt Faro, »aber ich habe es noch nie gesehen.« Er sagt das so, als hätte ich einen Zaubertrick vorgeführt. »Zeig mir, wie du das machst«, bittet er.
»Ach, Faro, das geht nicht auf Kommando. Außerdem will ich jetzt nicht mehr weinen. Siehst du, es gibt keine Tränen mehr. Was tun denn die Mer, wenn sie traurig sind? Wie verhaltet ihr euch zum Beispiel, wenn jemand stirbt?«
»Dann behalten wir den Toten in unserem Gedächtnis.«
»Wir sollten jetzt gehen«, sage ich abrupt. Ich will diesen bedrückenden Ort verlassen. Wie hatte das nur passieren können? Wie konnte das Meer so plötzlich ansteigen, dass ganze Inseln überflutet wurden und den Menschen nicht einmal genug Zeit blieb, sich in ihre Boote zu retten?
Ich werfe dem versunkenen Dorf einen letzten Blick zu. Die Rümpfe von Fischerbooten sind immer noch am ehemaligen Hafen festgemacht. Doch würden sie jetzt nicht mehr schwimmen, selbst wenn man sie an die Oberfläche brächte. Das Meerwasser hat ihre Planken zerfressen. Was würden die früheren Einwohner denken, wenn sie dies sehen könnten?
Ich kann nichts dagegen tun, dass mir erneut Tränen in die Augen steigen. Das Weinen in Indigo ist unangenehmer als an Land. Ich will nicht, dass Faro sieht, wie niedergeschlagen ich bin. Ich will auch nicht, dass er voller Neugier meine Tränen studiert, also halte ich mir die Hände vors Gesicht. Wie dieses untergegangene Dorf wohl geheißen hat? Es muss doch einen Namen gehabt haben.
Sag mir deinen Namen , geht es mir sanft durch den Kopf.
Doch niemand antwortet. Das Mondlicht ist verschwunden. Ich kann nichts mehr erkennen. Indigo ist stockfinster und voller Meergeräusche, die aus allen Richtungen kommen. Dann hebt mich die See nach oben und trägt mich mit sich fort.
Ich erwache in meinem Bett in St. Pirans, doch der Schlaf hängt wie Klebstoff an mir. Mein Zimmer ist sehr klein, gerade groß genug für mein Bett und einen schmalen Streifen Holzboden. Auf den Dielen hat sich eine Pfütze gebildet.
Mein kreisrundes Fenster steht offen. Vielleicht hat der Wind den Regen hineingeweht, aber das glaube ich nicht. Ich tauche einen Finger in die Pfütze und lecke ihn ab. Er schmeckt salzig. Indigo.
Im Haus ist es ruhig. Der ganze Ort schläft tief und fest. Ich blicke auf meinen Radiowecker, den Roger mir geschenkt hat, nachdem ich zum dritten Mal den Schulbus verpasst hatte. Seine Ziffern leuchten grün. 03:03. Neben meinem Bett liegen nasse Kleider auf dem Boden – meine Jeans und mein Kapuzenpullover –, und meine Haare sind auch nass. Den Pyjama muss ich mir angezogen haben, nachdem ich zurückgekehrt bin, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Mein Gedächtnis ist getrübt.
Doch das Bild der versunkenen Häuser steht mir noch klar vor Augen. Die Fensterlöcher hatten wie die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels
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