Noah & Echo - Liebe kennt keine Grenzen
Tritt gebracht. Nachdem ich mich schon mal aus dem Bett gequält hatte, wollte ich wenigstens irgendwann im Lauf des Tages im Unterricht erscheinen. »Ich habe keine Zeit für diesen Mist.«
Ein Hauch von Schärfe schwang plötzlich in ihrer Stimme mit, so subtil, dass es mir fast entgangen wäre. »Muss ich deine Betreuerin vom Jugendamt anrufen?«
Ich war schon auf dem Weg zur Tür. »Nur zu. Was kann die schon machen? Meine Familie auseinanderreißen? Mich in ihr staatliches Jugendfürsorgeprogramm stecken und von einer Pflegefamilie zur nächsten schicken? Graben Sie noch ein bisschen, dann werden Sie rausfinden, dass Sie dafür zu spät kommen.«
»Wann hast du deine Brüder zum letzten Mal gesehen, Noah?«
Ich blieb wie angewurzelt stehen, die Hand schon auf der Türklinke.
»Und wenn ich dir nun ein erweitertes Besuchsrecht anbieten könnte? Unter Aufsicht natürlich.«
Ich ließ die Klinke los und setzte mich wieder.
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Echo
Wenn ich doch bloß jede Sekunde des Tages Handschuhe tragen könnte, dann würde ich mich sicherer fühlen, aber die verdammte Kleiderordnung ließ das ja nicht zu. Deshalb befanden sich in meinem Kleiderschrank praktisch nur langärmlige Sachen – je länger, desto lieber.
Ich zog mir den Ärmelsaum bis zu den Fingern herunter, wodurch mir das blaue T-Shirt über die Schulter rutschte. In meinem ersten Jahr an der Highschool wäre ich noch ausgeflippt, wenn die anderen meine weiße Haut mit den paar ockerfarbenen Sommersprossen angestarrt hätten. Inzwischen war es mir lieber, sie starrten meine nackten Schultern an, als dass sie die Narben auf meinen Armen zu Gesicht bekamen.
»Hat sie nicht gesagt, wer es ist? Wetten, es ist Jackson Coleman. Ich hab gehört, dass er in Mathe durchfällt, und wenn er seinen Notendurchschnitt nicht verbessert, verliert er sein Stipendium fürs College. Oh Gott, hoffentlich ist er es. Der ist so heiß!« Meine beste Freundin, Lila McCormick, holte zum ersten Mal Luft, seit ich ihr die Kurzversion meiner Therapiestunde und die Neuigkeiten mit dem Nachhilfejob erzählt hatte. Lila, ausgestattet mit einem ziemlich losen Mundwerk und stets in hautengen Klamotten unterwegs, war so was wie die gute Fee der Eastwick High. Sie schwebte in einer schillernden Blase durch die Gegend und verbreitete Fröhlichkeit und gute Laune um sich.
Lila schob ihr Tablett an der Essensausgabe entlang, und mir lief vom Duft der Pommes und Pizza das Wasser im Mund zusammen. Aber weil mir übel war, kaufte ich lieber nichts. Mein Herz klopfte wie wild, und ich drückte meinen Skizzenblock an mich. Ich konnte kaum fassen, dass ich in die Cafeteria mitgekommen war. Lila und ich waren seit dem Kindergarten beste Freundinnen, und zu Weihnachten hatte sie sich von mir gewünscht, dass ich endlich die Bibliothek links liegen ließ und wieder mit in die Cafeteria kam.
Das klang so einfach, war es aber nicht. Das letzte Mal, als ich hier zu Mittag gegessen hatte, war Anfang Mai in der Zehnten gewesen: am Tag, bevor mein Leben in Scherben zerbrach. Damals hatte mich niemand angestarrt oder hinter meinem Rücken getuschelt.
»Wer ist heiß?«, fragte Natalie und drängelte sich mit ihrem Tablett zwischen Lila und mich in die Schlange. Ein paar Jungs hinter uns motzten über ihre Dreistigkeit, doch sie ignorierte es wie üblich. Natalie war der zweite von insgesamt zwei Menschen, die mich nicht wie eine Aussätzige behandelten, nur weil ein Haufen Gerüchte über mich an der Schule kursierten.
Lila strich ihre glatten goldblonden Haare nach hinten und bezahlte an der Kasse. »Jackson Coleman. Echo soll irgendeinem Jungen Nachhilfe geben, und wir raten, wer wohl der Glückliche ist. Wer ist dein Kandidat für unsere Liste heißer, aber geistig minderbemittelter Kerle?«
Ich folgte den beiden an ihren – und früher auch mal meinen – üblichen Tisch, während Natalie den Blick durch die Cafeteria schweifen ließ. »Nicholas Green. Der ist zwar dümmer, als die Polizei erlaubt, aber den hätte ich zu gern zum Dessert. Wenn er es ist, Echo, könntest du uns bekannt machen?«
»Wen mit wem bekannt machen?«, fragte Grace. Natalie und Lila setzten sich, während ich noch zögerte.
Graces Lächeln erstarb, als sie mich sah. Sie war der eigentliche Grund, warum ich zum Mittagessen nicht mehr in die Cafeteria mitkam. Vor dem Vorfall waren wir beste Freundinnen gewesen, und ich schätze, danach auch noch. Sie besuchte mich jeden Tag im Krankenhaus und während der
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