Noah & Echo - Liebe kennt keine Grenzen
allmählich selbst an zu glauben, dass ich nicht der gemeingefährliche Typ war, als den sie mich abgestempelt hatten. Leute wie ich durften normalerweise nicht mit anderen Minderjährigen zusammen untergebracht werden. »Hören Sie, ich habe schon eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt auf der Pelle. Sagen Sie Ihrem Boss, dass Sie Ihre kostbare Zeit nicht mit mir zu verschwenden brauchen.«
»Ich bin keine Sozialarbeiterin, ich bin Therapeutin.«
»Ist doch dasselbe.«
»Ist es nicht. Ich war viel länger auf der Uni.«
»Wie schön für Sie.«
»Und ich kann dir auf einer anderen Ebene helfen.«
»Sind Sie beim Staat angestellt?«
»Ja.«
»Dann will ich Ihre Hilfe nicht.«
Sie verzog die Lippen zur Andeutung eines Lächelns, wofür ich ihr fast Respekt zollte. »Wie wär’s, wenn wir mal Klartext reden.«, sagte sie. »In deiner Akte steht, dass du zu Gewalttätigkeit neigst.«
Ich schaute sie an, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Sie schaute genauso cool zurück. In dieser Akte stand haufenweise Mist, aber ich hatte schon vor Jahren kapiert, dass das Wort eines Teenagers nichts gegen das eines Erwachsenen galt.
»Diese Akte hier, Noah …«, fuhr sie fort und tippte dreimal mit dem Finger darauf. »Ich glaube, die erzählt nur die halbe Wahrheit. Ich habe mit deinen Lehrern von der Highland High gesprochen. Das Bild, das sie zeichnen, entspricht nicht dem jungen Mann, den ich vor mir sehe.«
Ich hielt meinen Spiralblock so fest, dass sich das Metall in meine Handfläche drückte. Für wen zum Teufel hielt sich diese Tussi, dass sie es wagte, in meiner Vergangenheit herumzustochern?
Sie blätterte in meiner Akte. »Du bist in den vergangenen zweieinhalb Jahren von einer Pflegefamilie zur nächsten geschickt worden. Das hier ist deine vierte Highschool seit dem Tod deiner Eltern. Interessant finde ich allerdings, dass du bis vor eineinhalb Jahren immer unter den besten Schülern warst und viel Sport getrieben hast. Das passt eigentlich nicht zu einem schwer erziehbaren Jugendlichen.«
»Vielleicht müssen Sie ja ein wenig tiefer graben.« Ich wollte diese Frau loswerden, und das beste Mittel war, ihr Angst zu machen. »Dann würden Sie herausfinden, dass ich meinen ersten Pflegevater vermöbelt habe.« Genau genommen hatte ich ihm einen Kinnhaken verpasst, als ich ihn dabei erwischte, wie er seinen eigenen Sohn schlug. Schon komisch, dass keiner aus der Familie für mich Partei ergriffen hatte, als die Bullen kamen. Nicht mal der Sohn.
Mrs Collins schwieg. Falls sie darauf wartete, nun meine Version der Geschichte zu hören, war sie auf dem Holzweg. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich gelernt, dass der Staat sich einen Dreck darum scherte, wie es dir ging. Sobald man da reinrutschte, war man verdammt.
»Ich habe mit deiner Vertrauenslehrerin von der Highland High gesprochen, und sie hat dich in den höchsten Tönen gelobt. Basketball-Schulmannschaft, immer unter den besten Schülern des Jahrgangs, engagiert in allerlei Schülerclubs, ein beliebter Mitschüler.« Sie musterte mich. »Ich glaube, der Junge hätte mir gefallen.«
Mir auch – aber das Leben ist eben kein Kindergeburtstag. »Dürfte jetzt wohl ein bisschen spät sein fürs Basketballteam – wo die Saison schon halb vorbei ist. Meinen Sie, der Coach hätte ein Problem mit meinen Tattoos?«
»Ich habe kein Interesse daran, dein altes Leben wiederherzustellen. Aber ich denke, gemeinsam können wir für dich eine Basis für eine neue Zukunft schaffen. Jedenfalls eine bessere, als wenn du auf dem Weg weitermachst, den du eingeschlagen hast.«
Sie klang so verdammt ehrlich, dass ich ihr am liebsten geglaubt hätte, aber ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass man besser niemandem vertraute. Ich blickte sie ungerührt an und ließ die Stille zwischen uns wachsen.
Sie brach den Blickkontakt zuerst ab und schüttelte den Kopf. »Du hast einiges einstecken müssen, aber du besitzt ein enormes Potenzial. Das sagen auch deine Lehrer, und die Noten in deinen Eignungstests sind phänomenal. Dein Notendurchschnitt könnte allerdings besser sein, ebenso wie deine Anwesenheit im Unterricht. Da dürfte es wohl einen Zusammenhang geben. Also, ich habe einen Vorschlag. Neben der wöchentlichen Sitzung bei mir nimmst du zusätzlich Nachhilfestunden, so lange, bis dein Notendurchschnitt den Testergebnissen entspricht.«
Ich stand auf. Inzwischen hatte ich meine erste Unterrichtsstunde verpasst. Dieses nette kleine Gespräch hatte mich aus dem
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