Noble House 02 - Gai-Jin
Hongkong.« Struan war der größte und stärkste von den dreien. Blaßblaue Augen, langes, zum Zopf gebundenes rötlich-braunes Haar und alt für seine zwanzig Jahre. »Es gibt keinen Grund, länger zu bleiben, bei Jamie McFay ist unsere Firma in guten Händen. Er hat uns erstklassige Dienste geleistet, als er Japan für uns öffnete.«
»Ein großartiger Mann, Mr. Struan, das ist er wirklich. Der Beste. Wird die Lady mit Ihnen abreisen?«
»Ach, Miß Richaud. Ich glaube, sie wird mit mir zurückkehren – ich hoffe es wenigstens. Ihr Vater bat mich, ein Auge auf sie zu haben, obwohl sie, während sie sich hier aufhält, das Mündel des französischen Gesandten ist«, antwortete er beiläufig und tat, als bemerke er nicht, daß Tyrer eifrig in ein Gespräch – auf französisch, das er selbst nur holpernd sprach – mit Angélique vertieft und ihr schon ganz und gar verfallen war. Ich kann’s ihm nicht übelnehmen, dachte er belustigt; dann spornte er sein Pferd an, um den anderen Platz zu machen, denn vor ihnen wurde der Pfad zum Flaschenhals.
Bis auf ein paar Bambusdickichte war das Gelände eben und nur hier und da leicht bewaldet – die Bäume trugen schon Herbstfarben. Es wimmelte von Enten und anderem Flugwild. Reisfelder und -sümpfe wurden intensiv bewirtschaftet, eine Menge Land war kultiviert. Überall Bäche. Und allgegenwärtig der Geruch nach menschlichen Fäkalien, Japans einzigem Düngemittel. Angewidert hielten das junge Mädchen und Tyrer sich parfümierte Taschentücher vor die Nase, obwohl eine kühle Brise von See her den ärgsten Gestank und die Folgen der sommerlichen Luftfeuchtigkeit, Moskitos, Fliegen und andere Plagen, davontrug. Die fernen Hügel, dicht bewaldet, glichen einem Brokat aus Rot-, Gold- und Brauntönen: Buchen, rote und gelbe Lärchen, Ahorn, wilde Rhododendren, Zedern und Fichten.
»Es ist wunderschön hier, nicht wahr, M’sieur Tyrer? Schade, daß wir den Fujijama nicht deutlicher sehen können.«
»Oui, demain, il est là! Mais mon Dieu, M’selle, quelle odeur«, was für ein Geruch, erwiderte Tyrer in fließendem Französisch, einer für jeden Diplomaten unabdingbaren Sprache.
Wie unbeabsichtigt fiel Canterbury ein wenig zurück, bis er direkt neben ihr war, und verstand es sehr geschickt, den jüngeren Mann zu verdrängen. »Alles in Ordnung, M’selle?«
»O ja, vielen Dank, aber ich würde gern ein Stückchen galoppieren. Ich fühle mich so wohl außerhalb der Umzäunung.« Seit sie zwei Wochen zuvor mit Malcolm Struan zusammen an Bord des alle zwei Monate verkehrenden Struan-Dampfers eingetroffen war, hatte man dafür gesorgt, daß sie stets wohlbehütet war.
Und mit Recht, dachte Canterbury, bei all dem Gesindel von Yokohama und, seien wir ehrlich, immer wieder mal einem Piraten, der sich herumtreibt. »Auf dem Rückweg können Sie eine Runde auf der Rennbahn drehen.«
»O ja? Das wäre wunderbar! Danke.«
»Ihr Englisch ist einfach großartig, Miß Angélique, und Ihr Akzent bezaubernd. Haben Sie in England die Schule besucht?«
»Nein, Mr. Canterbury.« Sie lachte, und eine heiße Woge stieg in ihm auf, so erregend wirkte ihre Schönheit auf ihn. »Ich bin noch nie in Ihrer Heimat gewesen. Mein jüngerer Bruder und ich wurden von meiner Tante und meinem Onkel erzogen. Sie war Engländerin und weigerte sich hartnäckig, Französisch zu lernen. Sie war mehr eine Mutter für mich als eine Tante.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Das war, nachdem meine Mutter bei der Geburt meines Bruders starb und mein Vater nach Asien ging.«
»Das tut mir leid.«
»Es ist lange her, M’sieur, und für mich ist meine geliebte Tante meine Mama.« Ihr Pferd zerrte an den Zügeln. Ohne nachzudenken korrigierte sie es. »Ich hatte großes Glück.«
»Ist dies Ihr erster Besuch in Asien?« erkundigte er sich, obwohl er die Antwort und noch sehr viel mehr kannte, aber er wollte, daß sie weitersprach. Die bruchstückhaften Informationen über sie – Klatsch, Gerüchte – hatten sich mit Lichtgeschwindigkeit unter den ihr verfallenen Männern verbreitet.
»Ja.« Ihr Lächeln ließ seine Augen aufleuchten. »Mein Vater ist ein Chinakaufmann in Ihrer Kolonie Hongkong, und ich bin während der Saison bei ihm zu Besuch. Da er ein Freund von M’sieur Seratard hier ist, hat er diesen Besuch für mich arrangiert. Vielleicht kennen Sie ihn ja, Guy Richaud von Richaud Frères?«
»Aber gewiß, ein sehr netter Gentleman«, antwortete er höflich, obwohl er ihn nicht
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