Noch ein Tag und eine Nacht
ihr wandern zu lassen. Zu wissen, dass sie da war, beruhigte mich. Der beste Sitzplatz war gleich neben der Tür. Wenn dieser Platz frei war, war das mein Glückstag, weil sie auf mich zugehen musste, um auszusteigen, und dann lächelte sie mich zum Abschied immer an. Noch besser war es, wenn ich mich nicht setzte und an der Tür stehen blieb: Dann standen wir ein paar Sekunden lang nebeneinander, sie neben mir. Ich atmete sie ein. Sie war wie die frische Luft, wenn man morgens in den Bergen das Fenster aufmacht. Von ganz nah atmete ich sie ein, ohne sie zu berühren. Eines Tages vielleicht, sagte ich mir. Eine kurze Berührung gab es aber doch einmal. Eines Morgens, während sie darauf wartete, dass die Tür aufging, bremste die Straßenbahn scharf, und es warf sie in meine Richtung. Eine Sekunde lang hielt ich ihren Mantel in der Hand, nur ganz kurz. Am liebsten hätte ich die Hand nie mehr geöffnet, sie nie mehr losgelassen. Auch sie sah mich manchmal an, wenn sie so dasaß.
Häufig begegneten sich unsere Blicke, als wären wir heimliche Komplizen. Manchmal hatte ich Angst, sie schenkte mir ihre Blicke und ihr Lächeln nur aus Anstand.
Oft schrieb sie in ein orangefarbenes Heft mit Pappeinband.
Was schreibt sie da bloß? Ob sie schon mal über mich geschrieben hat?, fragte ich mich.
Ich sah ihr gern beim Schreiben zu. Vor allem weil sie dazu die Handschuhe auszog und weil sie dann völlig entrückt war. So sehr, dass es mich sogar ein bisschen eifersüchtig machte. Wenn sie schrieb, hob sie zwar die ganze Fahrt über den Blick nicht von ihrem Heft, aber mit anzusehen, wie sie so ganz in dem, was sie schrieb, aufging, machte sie noch faszinierender. Ich wäre gern in ihrer Welt vorgekommen.
Auch wenn sie las, ließ sie sich nicht ablenken. Sie setzte dazu eine Brille auf. Stand ihr gut. Ich fand es schön, wie sie einen Finger unter die rechte Seite schob, ihn nach unten gleiten ließ und die Seite anhob. Eine natürliche Geste, doch mich schlug sie in Bann, denn ihre ganze Zartheit spiegelte sich darin.
An anderen Tagen wickelte sie eine Haarsträhne auf, ebenfalls mit dem rechten Finger.
Die Frau aus der Straßenbahn war schön. Mir gefiel ihr Gesicht, mir gefiel ihr Haar, das glatt, dunkel und voll war. Ihr Hals, ihre Handgelenke und ihre Hände. Am Ringfinger trug sie nur einen schmalen Trauring. Keine weiteren Ringe oder Armreife. Nur diesen schmalen Trauring. Am meisten hatten es mir aber ihre Augen angetan und was man darin sah, selbst wenn man ihrem Blick nur für einen kurzen Moment begegnete. Dunkel, tief, unausweichlich.
Kann man sich in einen Menschen verlieben, den man nicht kennt, den man nur Tag für Tag bei der Fahrt zur Arbeit in der Straßenbahn sieht?, fragte ich mich damals. Ich weiß es nicht. Ich weiß es noch immer nicht. Ich war nicht verliebt. Sie zog mich an. Was ich allerdings mit absoluter Gewissheit sagen kann, ist, dass ich mich irgendwie mit ihr verbunden fühlte und dass ich mir immer wieder dachte, dass das Schicksal ein Spiel mit mir spielte. Oder mit uns.
Einmal waren keine Sitzplätze mehr frei, und ich stellte mich genau vor sie. Allerdings mit dem Rücken zu ihr. Im Fenster sah ich ihren Blick. Sie schaute mich an. Wir trafen uns dort, auf jener Scheibe, die uns als durchsichtige Bilder zeigte. Und da, in der Begegnung unserer gespiegelten Gesichter, fand ich heraus, dass solche Blicke über Bande viel intimer sind als direkte. Als würde man beim Stehlen ertappt. Als machte diese Fläche auch einen heimlichen Wunsch transparent. Als sie diesmal ausstieg und die Straßenbahn wieder anfuhr, drehte ich mich um und sah sie an. Sie tat dasselbe.
Zweimal wöchentlich hatte sie eine Sporttasche dabei, meist montags und donnerstags. Das sollte ich auch so machen, dachte ich. Also die Tasche mit ins Büro nehmen und nach der Arbeit direkt hingehen, obwohl das Fitnessstudio gleich bei mir um die Ecke ist. Dann würde ich bestimmt öfter trainieren. So aber ging ich nach Feierabend erst nach Hause, um die Tasche zu packen, und dann konnte ich mich nicht mehr aufraffen. Wenn ich nach einem anstrengenden Tag in die Wohnung komme, ist die Vorstellung, noch mal rauszugehen, alles andere als verlockend. Abgesehen davon, dass ich Hunger habe, wenn ich heimkomme, und mir immer erst mal etwas reinschieben muss. Dann sage ich mir jeweils: Ins Fitnessstudio gehe ich morgen.
Meine Beziehung zur Sporttasche ist eigenartig. Wenn ich sie abends packe, bekomme ich Lust, mich hineinzulegen
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