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Noch einmal leben

Noch einmal leben

Titel: Noch einmal leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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nicht mein Tag.

3
     
    Langsam erwachte Charles Noyes. Widerwillig kämpfte er gegen die Rückkehr in die reale Welt an. Er lag allein in einem Bett, das gerade lang genug für seinen mageren Körper war. Seine Arme zuckten und seine Lider flatterten. Der Morgen war gekommen. Zeit zum Aufstehen und Zeit zum Abrackern. Er wehrte sich dagegen.
    - Nun mach schon, du feiger Jammerlappen, sagte James Kravchenko in seinem Kopf. Wach endlich auf!
    Noyes stöhnte. Erpreßte die Augenlider zusammen. „Laß mich in Ruhe.“
    - Auf, auf! Begrüße den jungen Tag.
    „Du bist nicht dafür vorgesehen, mit mir zu reden, Kravchenko. Du sollst einfach nur still da sein.“
    - Na, hör mal, ich habe doch nicht darum gebeten, in dein Gehirn gestopft zu werden. Du kannst mich jederzeit wieder rauslassen; du weißt ja, wo du hingehen mußt.
    „Das kannst du nicht wollen, du bluffst nur. Du möchtest doch ganz gerne bleiben, wo du bist, Kravchenko. Bis du mich endlich ganz übernommen und in eine Marionette verwandelt hast.“
    Kravchenko gab keine Antwort. Etliche Minuten vergingen, aber das andere Bewußtsein schwieg weiter. Wieder überlegte Noyes, ob er aufstehen sollte. Er blieb aber liegen und wartete, weil er davon überzeugt war, daß Kravchenko ihn wieder anmeckern würde. Er wollte sich nur erheben, wenn er dazu getrieben wurde. Aber als das Schweigen immer länger anhielt, wurde ihm bewußt, daß die Verantwortung ganz auf seiner Seite lag. Er mußte den gemeinsamen Körper selbst aus dem Bett bewegen. Er schob die Decke zurück und schaltete den Nachtmonitor ab.
    Neben dem Bett lag die Ampulle mit dem tödlichen Gift Noyes heftete die Augen auf sie. Der erste Gedanke, der ihm kam, war derselbe, mit dem er letzte Nacht eingeschlafen war: Selbstmord. Nein, Doppelmord. Wenn er ging, würde er Kravchenko mitnehmen. Er streichelte die Ampulle wie ein Verliebter.
    In dem kleinen Behälter floß eine tödliche Menge Beta 13 Viral-DNS: ein replikatives Molekül, das die Körperzellen dazu brachte, autolytische Enzyme, bestimmte Säurehydrolasen, aus den Lysosomen oder „Selbstmordbeuteln“ freizusetzen. Wenige Augenblicke nach der Einnahme erzeugte das Gift eine derart wasserfallartige Autolysewelle, daß der Körper buchstäblich auseinanderfiel. Der Zelltod war unwiderruflich und setzte sich immer weiter fort. Sobald eine Zelle nach der anderen zusammenbrach, wurde sie vom Zerfallsprozeß verschlungen. Das Gift brachte einen schnellen, aber außergewöhnlich qualvollen Tod, denn der Körper verwandelte sich ausgehend vom Verdauungstrakt in Schleim. Und es konnte acht bis zehn Minuten dauern, bevor die Nervenzentren nicht mehr in der Lage waren, den Schmerz der Auflösung zu registrieren. Aber gerade in seiner Unwiderruflichkeit lag das Besondere dieses Gifts. Es gab kein bekanntes Gegenmittel – ein solches war nicht einmal vorstellbar. Auch Magenauspumpen oder etwas ähnliches konnte den Prozeß nicht mehr aufhalten, wenn die ersten Zellen angegriffen waren. Wenn die Zerstörungsflut anrollte, war dem Opfer nicht mehr zu helfen. Noyes nannte das in Gedanken schon einmal den „Schwups-und-weg-Effekt“.
    Er legte die Ampulle wieder weg.
    - Na los, schluck es runter, warum zögerst du?
    „Sehr witzig, Kravchenko.“
    - Ich mache keinen Spaß. Du machst mir keine Angst, wenn du mit dieser Selbstmordsuppe in der Gegend herumfuchtelst. Ich komme schon zeitig genug zu einem neuen Körper, sobald du erst verschwunden bist. Vielleicht findest du dich sogar an meiner Seite wieder, wenn ich das zweite Mal verpflanzt werde.
    Noyes griff nach der Ampulle.
    - Na los, setz sie an die Lippen und laß dich aufweichen. Es geht ganz schnell.
    „Nein, du Dreckskerl! Ich werde es schlucken, wann ich es will, und nicht, um dich zu amüsieren!“
    Es kam Noyes so vor, als hörte er ein geisterhaftes Lachen von Kravchenko. Erneut stellte er die Ampulle hin. Er zog sein Nachthemd aus und begann mit den Morgenriten.
    Religiöse Vorschriften. Er griff nach dem Bardo. Ungezählte Generationen anglikanischer Vorfahren rotierten wie Turbinen in ihren Neu-England-Gräbern, als der letzte und nichtsnutzigste Sproß der Noyes das barbarische Heilige Buch der Tibetaner aufschlug. Er wandte sich wie üblich dem Sterbekapitel im Bardo zu; und zwar einer der ersten Passagen, bevor die Dämonen auftauchen und das Nirwana immer noch in Reichweite liegt. Mit leiser Stimme las er:
     
    Oh Wohlgeborener, höre zu. Jetzt erfährst du die Strahlung des Klaren

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