Noch einmal leben
schon, Charlie. Er hat recht: ich möchte auch auf die Party. Mindestens drei meiner Ehefrauen sind sicher anwesend. Ich brenne darauf zu sehen, wie sie immer älter werden.
„Lieber bringe ich mich um!“
- Wenn du genügend Persönlichkeit hättest, würdest du das tun, da bin ich ganz sicher. Also geh zum Telefon und ruf deine Schwester an.
Noyes hörte höhnisches Gelächter im Kopf.
Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und betrachtete lange die Giftampulle. Aber wie immer war es auch dieses Mal nur eine dramatische Geste, mit der er weder sich noch diesem teuflischen Bewußtsein in seinem Kopf etwas vormachen konnte. Die erneute Niederlage schmerzte. Er hob den Hörer und drückte die Nummer. Wenige Sekunden später erschien das „Bitte nicht stören“-Zeichen auf dem kleinen grauen Bildschirm. Sie nimmt wohl gerade ihr Morgenbad, dachte sich Noyes und sagte: „Ich bin’s, Gloria, nur Charlie, dein Kumpel aus dem Mutterschoß.“
Der Bildschirm klarte auf, das Gesicht und die Schultern von Gloria Loeb erschienen. Sie trug eine Art losen Überwurf, irgendeines ihrer geheimnisvollen Schönheitspräparate, mit denen sie ihren Teint ewig jung hielt, ließ Wangen und Stirn verführerisch glänzen. Gloria war drei Jahre älter als Charles, sah aber um mindestens ein Dutzend Jahre jünger aus. Die beiden hatten sich nie sonderlich gemocht. Ihre Hochzeit mit David Loeb vor sechzehn Jahren war ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis gewesen, ein grandioses Spektakel, wie es der Vereinigung von alteingesessenem Neu-England-Geldadel mit alteingesessenem jüdischem Geldadel angemessen war. Heutzutage waren solche Hochzeiten groß in Mode; unaufhaltsam wurde hier eine neue Rasse von angelsächsischen Juden gezüchtet, deren exquisite Ahnenreihe sich einerseits bis zu den Plantagenets und andererseits zu David und Salomon zurückverfolgen ließ – eine wahrhaft unübertreffliche Kombination. Noyes hatte sich auf der Hochzeit seiner Schwester sinnlos betrunken. In gewisser Weise hatte sein Niedergang an jenem Abend seinen Ausgang genommen, einige Wochen nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag.
Unterkühlt sagte Gloria: „Wie schön, wieder was von dir zu hören, Charles. Du siehst gut aus.“
„Das ist eine höfliche Lüge. Ich sehe furchtbar aus, das kannst du mir auch ruhig ins Gesicht sagen.“
Ihre Lippen verzogen sich ungeduldig. „Liegt irgend etwas an? Ist bei dir alles in Ordnung?“
Noyes atmete tief ein und sagte dann: „Ich möchte dich um eine klitzekleine Gefälligkeit bitten, Gloria.“
4
Das Gebäude der Seelenbank, drei Super-Blöcke, ragte terrassenförmig über der breiten Plaza empor. Das prunkvolle Bauwerk war nicht grundlos hier an der Südspitze von Manhattan erbaut worden – einem Ort der einst Brennpunkt geschichtlicher Ereignisse gewesen war. Hier hatte Peter Minnit mit den Indianerkriegern verhandelt und ihnen eine Welt für eine Handvoll Glasperlen abgekauft; hier war Peter Stuyvesant mit seinem Holzbein in cholerischem Arbeitseifer herumgewirbelt; George Washington war schon durch diese Straßen gegangen, genau so wie J. P. Morgan, Jay Gould, Thomas Edison, Bet-a-Million Gates, Joseph P. Kennedy, Paul Kaufmann und neben vielen weiteren auch Helmut Scheffing. Von dieser Historie zeugten nur noch wenige Spuren. Ein Häuserblock mit Gebäuden aus dem achtzehnten Jahrhundert war erhalten und in eine Art Museum umgewandelt worden. Das siebzehnte Jahrhundert war vollkommen verschwunden, ebenso das neunzehnte, und vom zwanzigsten hatten sich in dieser Gegend nur noch ein paar heruntergekommene, altersschwache Glas- und Betonpaläste erhalten können. Die großen Banken hatten sie während des wirtschaftlichen Booms in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dort erbauen lassen, kurz bevor es zur großen Umdenkungsphase gekommen war. Hell und von seinen Nachbarn durch tausende unbezahlbarer Quadratmeter rosafarbener, nachtleuchtender Fliesen abgesetzt erhob sich der glänzende Turm des Scheffing-Instituts: achtzig Stockwerke, dann ein Einschnitt mit vierzig und schließlich ein mit schwarzem Granit bestücktes Dach aus weiteren zwanzig Stockwerken. Man konnte den Turm mit Leichtigkeit von Brooklyn, Queens, Staten Island, New Jersey und ganz besonders gut von Jubilisle, dem schwimmenden Vergnügungszentrum im New Yorker Hafen, ausmachen. Wer dort von den sündhaften Vergnügungen und den Spieltischen aufsah, konnte den beruhigenden Koloß des Scheffing-Instituts am Ende Manhattans
Weitere Kostenlose Bücher