Lost on Nairne Island
1
A ls der Priester die Frage stellte, ob irgendjemand einen Grund kenne, warum das Paar vor ihm nicht getraut werden sollte, hätte ich was sagen sollen. Mir fallen nämlich auf Anhieb mindestens fünf Gründe ein, warum meine Mom Richard Wickham niemals hätte heiraten sollen.
1.
Er heiÃt Richard, was im Grunde bloà die beschönigende Form von Dick ist. Ich finde, kein Mensch sollte eine Beziehung mit jemandem namens Dick eingehen.
2.
Meine Mom hat Richard (Dick) vor drei Monaten im Internet kennengelernt. Wenn ich mit einem Kerl ins Kino gehen wollte, den ich im Internet kennengelernt habe, würde mir meine Mutter stundenlang damit in den Ohren liegen, was für kranke Typen dort rumlungern. Ganz zu schweigen davon, dass man das Wort âºHeiratâ¹ nicht mal denken sollte, solange man die Beziehungsdauer noch in Wochen messen kann (ich meine, hallo, zwölf Wochen?!).
3.
Dick hat einen Sohn in meinem Alter, Nathaniel heiÃt der, und der sieht rein zufällig verdammt gut aus und ist aufgrund unserer Verwandtschaft jetzt leider ganz offiziell tabu für mich.
4.
Nur weil meine Mom unbedingt heiraten wollte, musste ich da mitspielen. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als ausgerechnet in meinem Abschlussjahr von Seattle auf eine gottverlassene Insel zu ziehen, auf der es mehr vom Aussterben bedrohte Vögel gibt als Menschen.
5.
Dicks erste Frau sowie seine Tochter sind vor sieben Monaten ums Leben gekommen. Ich finde, er hätte wenigstens ein Jahr warten können, ehe er sich uns als Ersatz angelt. Ich mag zwar auch nicht unbedingt ein Paradebeispiel für gutes Benehmen sein, doch selbst ich weiÃ, dass sich manche Dinge einfach nicht gehören.
Während die Fähre sich tuckernd Nairne Island näherte, hatte ich mit einem Mal Grund Nummer sechs vor der Nase.
»Na, da ist es ja«, rief Dick mit seiner donnernden Stimme. Er klang wie ein Schauspieler auf der Bühne, der erwartete, dass die Zuschauer allein aufgrund seiner Präsenz in spontanen Beifall ausbrachen. »Und, wie findest du dein neues Zuhause, Isobel?« Er klopfte mir so beherzt auf den Rücken, dass es mich fast umgehauen hätte.
Fragend sah ich meine Mom an. Ich hoffte irgendwie, das sei ein Scherz. Doch statt loszulachen, schmachtete sie Dick an, als wäre er ein Stück Schokoladen-Käsekuchen, das sie sich nach einer längeren Phase der Diät endlich wieder gönnen durfte. Sie hatte mir erzählt, das Haus sei groà und seit dem späten neunzehnten Jahrhundert im Besitz von Dicks Familie, als diese hier auf der Insel eine Stadt gründete. Allerdings hatte sie vergessen zu erwähnen, dass es nicht einfach nur groà war; es war vielmehr riesig . Die meisten Hotels sind kleiner als dieses Haus. Es thronte hoch oben an der äuÃersten Spitze der Insel, wie eine dicke Lady aus Ziegeln, die sich dorthin gepflanzt hatte, um den Verkehr im Hafen zu beobachten. Im Zentrum des Hauses befand sich eine Reihe von riesigen Bogenfenstern, vor denen sich eine Terrasse aus Naturstein erstreckte. Die Flügel des Gebäudes waren zu beiden Seiten mit Efeu überwuchert. Nicht so schön erhaben und romantisch wie an den Gemäuern der ehrwürdigen alten Eliteuniversitäten, sondern eher total chaotisch, ein dichtes Gewirr aus wild wucherndem Efeu.
»Wie nennt man denn diesen Baustil? Frühes Angebertum?«
»Isobel!«, mahnte mich meine Mom und warf mir einen Blick zu, der besagte: Warte nur, du kannst was erleben, wenn wir zwei allein sind .
Dick stieà einen seiner »Ho, ho, ho, ich bin Herrscher dieses Anwesens«-Lacher aus. »Sei doch nicht gleich sauer auf sie. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es einen total von den Socken haut, wenn man Morrigan das erste Mal zu Gesicht bekommt.«
Meine Augenbrauen schossen nach oben. »Morrigan? Du hast diesem Haus einen Namen gegeben?« Ich wette, Richard gehörte zu dem Typ Mensch, der allen seinen Sachen einen Namen gab, darunter seinem Auto, seinem Lieblings-Golfklub, seinem Schwanz. Dicks Schwanz. Mir schauderte. Allein die Vorstellung konnte tiefe emotionale Narben hinterlassen.
»Die meisten Anwesen dieser GröÃe tragen einen Namen«, meinte Dick und wies damit dezent darauf hin, dass es sich hier keineswegs um ein gewöhnliches Haus handelte, wie gewöhnliche Menschen es bewohnen. Als hätte man mich darauf extra aufmerksam machen müssen. Unser alter Bungalow mit den
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