Nochmal tanzen - Roman
letzter Zeit ein gewisser Alexander Seibt auf meine Musikwünsche bezieht. Darf ich Sie bitten, ihm den beigelegten Brief weiterzuleiten?
Freundliche Grüße
Alice Maag
Sie denkt nach. Auf dem Bildschirm schlägt der Cursor den Takt. Schreib – schreib – schreib. Sie schreibt:
Sehr geehrter Alexander Seibt
Es freut mich, dass wir den gleichen Musikgeschmack haben. Gehen Sie oft ins Konzert? Ich habe selten Gelegenheit dazu. Alleine gehe ich nicht gerne aus. Deshalb höre ich das Wunschkonzert und freue mich jedes Mal über Ihre anregenden Wünsche. Ich würde mich über ein paar Zeilen von Ihnen freuen – auch gerne per E-Mail.
Freundliche Grüße
Alice Maag
Sie liest den Brief durch. Was, wenn er verheiratet ist? Die Krähe auf dem Dach trippelt um die Nuss herum, versucht erneut, sie zu knacken. Alice druckt die beiden Briefe aus, unterschreibt sie und steckt sie in einen Umschlag. Die Nuss rollt hinunter, der Vogel schwingt sich in die Luft. Alice öffnet das Fenster. The winner takes it all dringt zu ihr. Das Hoffest! Fast hätte sie die Einladung vergessen. Heute Abend will sie tanzen.
2
Den Kopf ans Zugfenster gelehnt, beobachtet Fleur die Klassenkameraden. Sie dösen oder lesen für den Deutschunterricht die Briefe vom 1. Juli bis und mit 8. August aus Die Leiden des jungen Werthers. Fleur hat schon die ganze Geschichte gelesen. Sie äugt in Michaels Buch, um sich ins Gedächtnis zu rufen, worum es in diesen Kapiteln geht. «Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich.»
Im Abteil nebenan unterhält sich Geschichtslehrer Minder mit Cleophea. Da haben sich zwei gefunden. Cleophea, die schon als Kleinkind die Erzählungen aus der griechischen Mythologie vorgelesen bekam und Archäologin werden will, und Minder, der eine Heilige in der sixtinischen Kapelle als die schönste Frau der Welt bezeichnet. Er streicht sich eine Haarsträhne über die Glatze und zieht Luft zwischen den Zähnen hindurch. «Dieses Zischen», stöhnt Michael. Früher wäre Sarah neben Fleur gesessen, hätte sich an sie gelehnt. Sie hat ihren Geruch noch in der Nase. Körperdunst vermischt mit Indianerseife aus dem Welt-Laden. «An meinen Körper kommt nichts, was die Umwelt belastet», sagte Sarah. Sie war in allem konsequent, viel konsequenter als Fleur. Stur ist sie, fanatisch. Wie kann sie sich von dieser Sekte einnehmen lassen. Sarah, die Kritische. Früher hätte sie in der Klosterkirche, zu der Fleur mit der Klasse unterwegs ist, Fragen gestellt zur Rolle des Abtes und des Papstes, sie hätte den Zehnten, den die Landbevölkerung abgeben musste, verurteilt, und die Unterdrückung der Frauen in der katholischen Kirche kritisiert. Und jetzt versucht Sarah alle, die ihr begegnen, davon zu überzeugen, dass sich Darwin irrte und die Menschheit von Adam und Eva abstammt. Sie hat es Fleur gegenüber mit dem Staub begründet, der überall liegt. Fleur hat den Zusammenhang nicht begriffen. Nächtelang diskutierte sie mit ihr, aber Fleur ist nicht bibelfest. Jedes Mal, wenn Sarah aus der Bibel zitierte und zu einer Interpretation ausholte, zum Beispiel, Homosexualität sei eine Sünde, zog Fleur den Kürzeren. Sie war sicher, dass Sarahs Auslegung nicht stimmte, mit Bibelversen belegen konnte sie es nicht. «Gott hat nichts gegen Liebe, falls es ihn überhaupt gibt, und ein Wort enthält keine absolute Wahrheit», versuchte sie es. «Nimm als Beispiel das Wort Freiheit. Es kann das Gegenteil von Knechtschaft bedeuten, Bewegungsfreiheit, Ungebundenheit, Eigenverantwortlichkeit, Anarchie, Selbstbestimmung, Freizügigkeit. Das hast du doch auch gelernt.» Sarah meinte, es sei nun mal so, dass Gott die Bibel diktiert habe, und sie gehöre zu den Auserwählten, die sie verstünden.
Im Skilager stand Michael Fleur bei, auch Cleophea appellierte an Sarahs Vernunft: «Wir leben nicht mehr wie die Vorfahren im alten Testament, sonst wärest du längst verheiratet.» Sarahs Augen blitzten, doch ihre Stimme klang beherrscht, als sie sagte: «Ihr wisst es nicht besser, mit euch redet Gott nicht.» Wie denn Gottes Stimme klinge, fragte Cleophea. Sarahs Blick wurde schneidend. «Du hast wirklich keine Ahnung. Ich werde ihn bitten, dir zu verzeihen.» Sie stand auf und ging.
«Sie spinnt», sagte Michael nach einer Weile. Fleur sagte nichts. Sie machte sich Vorwürfe. In den Sommerferien, in denen Sarah sich mit Sektenanhängerin Miriam traf, war Fleur mit der Mutter zwei Wochen in
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