Nochmal tanzen - Roman
Absätzen, Träger rutschen von Schultern, Unterhosen werden zurechtgezupft, und die Gesichter sind statt auf den Boden gegen den Himmel gerichtet. Die winterliche Steife ist weg. Weggeblasen vom Aufatmen.
Eine Frau direkt unter ihr trägt über weißen Leggins ein weißes Oberteil. Es reicht ihr knapp über den Po. Hat ihr niemand gesagt, wie erbarmungslos weiß ist? Alice bekam im Tanzkurs zu hören, Weiß stelle jede Delle aus, sei «nicht vorteilhaft». Auch leichtfüßiges Gehen brachte ihr der Lehrer bei. Damals fühlte sie sich zum ersten Mal elegant. Wie lange das her ist.
Sie streckt die Beine, massiert die Knie. Mit dem Verkauf des Balleros ist ihr der Körper abhandengekommen. Beim Turnen fühlt sie sich nie ganz. Da ist rechte Hüfte, linke Hüfte, Arm, Oberschenkel, Unterschenkel, unterer Bauch, schräger Bauch, Kreuz, Brust, Schulter, Nacken. Sie beugt Osteoporose vor, turnt gegen Übergewicht, Stürze, Gleichgewichtsstörungen. Sie balanciert auf einem Bein, rollt vom Bauch auf den Rücken, kreist mit den Armen. Zur Stärkung der Füße lässt die Turnlehrerin sie mit den Zehen Tülltüchlein vom Boden aufheben. Wie damals, im Kindergarten.
Sie überlegt, wie die weiß gekleidete Frau tanzt. Sie schwenkt die Hüften beim Auftreten, der Oberkörper macht die Gewichtsverlagerung mit. Vermutlich tanzt sie gerne. Ob sie sich führen lässt? Schwer abzuschätzen. Früher beobachteten Martin und sie, wie sich die Neulinge auf der Straße dem Ballero näherten, und rätselten, wer wie tanzte. Martin schloss von den Bewegungen der Frauen und Männer, wie sie sich im Bett anstellten. Eigentlich interessierten ihn nur die Männer. Alice lächelt beim Gedanken. Sie würde Tanzen nicht mit Sex vergleichen. Zum Tanzen braucht es ein analytisches Auge, Rhythmusgefühl, Koordination, Konzentration, Körperbeherrschung, Raumgefühl. Zum Sex Hingabe und Liebe.
Wenn sich Alexander nur meldet. Ihr fällt ein, dass sie dran ist mit Wünschen. Salsa bringt das «Klassiktelefon» nicht. Tango von einem klassischen Geiger gespielt, vielleicht. Sie spricht ihren Wunsch aufs Band und verhaspelt sich dabei. «Schluss jetzt, reiß dich zusammen.» Sie stellt den Computer an. Nichts von Alexander. Sie schreibt:
Lieber Martin
Wie gehts Dir? Bitte schreibe mir etwas Schönes. Aber keine Liebesgeschichte!
Deine Alice
Sie schickt die Zeilen ab und schaut nach, was auf der Website der Frauenzeitschrift zu lesen ist. Neue Parfums, Wellnesshotels in der Karibik, Büro-Lunch-Rezepte. Sie klickt aufs Horoskop. Die Zeit sei reif für eine Gehaltserhöhung, steht da. Was ist mit den Pensionierten? Ein «Bling» verkündet das Eintreffen einer Nachricht. Schnell wechselt sie das Programm. Martin antwortet:
Liebe Alice
Ich war gerade dabei, Dir zu schreiben, als Deine Mail eingetroffen ist. Der Mann vom Wunschkonzert lässt auf sich warten, stimmts? Geduld!
Darf ich schreiben, dass es mir prächtig geht? Ich war heute Morgen alleine auf dem Markt und vertrödelte sicher eine Stunde mit einem Schwätzchen hier, Schwätzchen dort. Die Fischverkäuferin, die trotz 24 Grad eine Wollmütze trug, erzählte mir von ihrer Erkältung – sofern ich sie richtig verstand. Sie bot frische Flusskrebse an, von denen ich ihr ein paar abkaufte.
Der Markt hat in der Früh etwas Rührendes. Die Kunden schlurfen in Pyjamas an den Ständen vorbei, auf den Wangen Babypuderkreise. Der Puder kühlt und pflegt die Haut bei der hohen Luftfeuchtigkeit, die wir hier haben. Pong und ich tragen ihn mit dem Pinsel auf, damit sich keine Kreise bilden. «Kauft hier, kauft hier», raunte es über den Platz. Kein Vergleich zum Geschrei am Mittag. Im gedeckten Teil, wo Fleisch, Fisch und Geflügel auf Metallbänken lagen, mischte sich das Klatschen der Stofffetzen, mit denen die Verkäufer die Fliegen von ihrer Ware vertrieben, unter das Raunen. Unterbrochen wurde es von lautem Klopfen, wenn einem Huhn der Schlegel oder einem Fisch der Kopf abgehackt wurde. Nach dem Krebskauf ließ ich mir vom Ananashändler eine halbe Frucht schälen und in Stücke schneiden. Es gibt kein besseres Frühstück.
Für Pong kaufte ich Mandarinen. Nun, zuerst musste ich ein bisschen flirten. Lach nicht, Alice, ich flirte, um einen guten Preis auszuhandeln. Ich machte der Verkäuferin ein Kompliment für die Auslage, dann schwatzten wir über ihre Kinder. Schließlich sagte ich: «Ich kann jetzt ‹ Schlange › sagen.» Das glaube sie erst, wenn sie es höre, stichelte sie. Ich formte
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