Nochmal tanzen - Roman
baut.» Minder zieht Luft zwischen den Zähnen hindurch. «Die Verfechter einer uneingeschränkten Marktwirtschaft, die behaupten, dass alle, die hart arbeiten, Erfolg haben können, setzen auch darauf. Menschen arbeiten härter in der Hoffnung, belohnt zu werden, und akzeptieren Hierarchien – weil man ohne Hierarchie nicht nach oben kommen kann.» Er streicht die Haare über die Glatze und deutet mit dem Kopf zur Wand. «Wissen Sie, warum die Bittsteller hier nicht zu Gott, sondern zu Maria beten?» Niemand antwortet. «Weil ihr Wort beim Allmächtigen Gewicht hat. In einem Pilgerbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert steht, ihre Fürbitte wirke schneller als der direkte Anruf an Gott.»
«Predigt beendet», sagt Michael laut.
«Noch nicht.» Minder verschränkt die Arme. «Wer nicht hofft, gibt auf.»
«Amen», sagt Michael.
Fleur nimmt ihren Papierblock aus der Jackentasche und macht sich Notizen. Wer waren die Freiluftmaler, die von den Hoffnungen der Gläubigen lebten? Sie schaut auf. Minder ist nicht mehr in Hörweite. Sie notiert «von der Hoffnung leben» und betrachtet die Bilder erneut. Der Sturz vom Baugerüst kann noch nicht alt sein. Man hätte den Unfall fotografieren können, statt ihn zu malen. Fleur überlegt, wie Votivfotografien aussehen würden. Vorher-Nachher-Aufnahmen, dazu ein Spruch. «Mit Madonnas Hilfe konnte ich den Brustkrebs besiegen.» Oder «Dank Maria habe ich zwanzig Kilo abgenommen.»
Nach einem letzten Blick auf die Tafeln schlendert sie am Kerzentisch vorbei Richtung Ausgang. In einer Nische klebt ein Blatt Papier an der Wand. Sie tritt näher. Ein handschriftlicher Brief, datiert vom Vortag:
Lieber Gott
Wie zeigst Du Dich? Wie erkenne ich Dich? Wie kann ich Dich vernehmen? Ich benötige Deine Hilfe. Jeden Morgen suche ich nach einem Grund, aufzustehen. Ich bete ein Vaterunser, höre den Vögeln zu, betrachte das Licht, das sich durch die Ritzen der Rollläden presst. Kein Zeichen von Dir. Ich überlege, was mir den Tag möglich machen könnte. Kaffee, Lesen, Arbeiten, Sport. Er wird nicht möglich.
Wie muss ich Dein Schweigen verstehen? Bist Du nicht da oder erkenne ich Dich nicht? Bestrafst Du mich mit meinem Leben? Wofür?
Heute Morgen kam mir der Gedanke, dass ich Dir hier, im Kloster, begegnen könnte. Ich stand auf, kam her, bekreuzigte mich, kniete nieder. Demütig betete ich. Bat um Hilfe. Auch eine Kerze zündete ich an. Ich wartete auf Dich. Vergeblich. Warum? Verzeih Gott, ich kann nicht mehr. M. S.
Fleur streicht mit der Hand über das Papier. Gestern stand M.S. hier, hielt sich am Bleistift fest und schrieb. Hat er oder sie sich danach umgebracht? Was für ein Gott. Eilig verlässt sie die Kirche. Auf dem Klosterplatz reiht sich Stand an Stand mit religiösem Krimskrams. Kerzen, Postkarten, Ansteckknöpfe und Schlüsselanhänger mit Madonna in verschiedenen Gewändern darauf. Was für eine Welt. Maria an einem Schlüsselbund in der Hosentasche. Hat M.S. einen gekauft?
Erst ist die Kaffeetasse umgekippt, dann die Zahnbürste zu Boden gefallen, und jetzt verschmiert die Mascara. «Verflixt. Nimm dich zusammen», flucht Alice. Alexander bringt alles durcheinander. Er spaziert mit ihr das Seeufer entlang, reicht ihr im Foyer des Konzerthauses den Arm. Als er auf ihrem Sofa hockt, scheucht sie ihn weg. Sie will ihn nicht fragen, was sie kochen soll oder welches Fernsehprogramm er einschalten möchte. Sie ertrüge es nicht, den ganzen Tag jemanden um sich zu haben.
Sie tritt auf den Balkon hinaus. Wie warm es geworden ist. Mit geschlossenen Augen hält sie das Gesicht in die Sonne. Wieder die Seepromenade, das Foyer. Sie seufzt. Es wird keinen Spaziergang, keinen gemeinsamen Konzertbesuch geben. Mach dir keine Hoffnungen. Wenn nicht mit Alexander, dann vielleicht mit jemand anderem. Vergiss es. Nie mehr?
Sie öffnet die Augen. Gut möglich. Wahrscheinlich. Sie zieht einen Stuhl heran, setzt sich. «Konzentrier dich auf den Moment», riet sie Schülerinnen, die aus dem Takt fielen, weil sie den nächsten Schritt schon im Kopf hatten. Oder, wenn sich ein Schüler verhedderte: «Denk nicht so viel, hör auf die Musik.»
Sie blickt auf die Straße hinunter. Die Passanten haben Mäntel und Stiefel abgelegt und staksen durch die laue Luft, als entdeckten sie eben ihren Körper. Der Frühling macht sie zu Anfängern. Die Nicht-Ausrutschen- und die Armean-den-Körper-Schritte des Winters taugen nicht mehr, die neuen sind noch ungewohnt. Knöchel wackeln über
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