Nochmal tanzen - Roman
verräterische Proportionen.
«Hast du etwas von Martin gehört?», fragt Britt.
«Ja. Es geht ihm gut.»
«Ich würde sterben vor Heimweh», sagt Britt. «Was macht Martins Freund schon wieder?»
«Pong und Martin führen in einem Dorf im Nordosten von Thailand einen Tante-Emma-Laden», sagt Alice.
«Wo genau?», fragt Susanne.
«Ich kann mir den Namen der Ortschaft nicht merken. Vielleicht weiß ich ihn nach meinem Besuch. Ich habe vor, Martin im November zu besuchen.» Die drei Frauen schauen sie an. «Dass du den Mut hast, so weit zu reisen», sagt Elsa. Alice entgegnet nichts. Sie ist nicht mutig. Sie will Martin sehen. «Wie gehts dir, Elsa? Schläfst du besser?», fragt sie.
«Ja. Ich gehe später zu Bett. Ich habe eine neue Serie entdeckt, die um halb elf Uhr ausgestrahlt wird, eine französische. Sie spielt in einem Restaurant. Ein Koch, eine Kellnerin, ein paar Stammgäste und in jeder Folge ein Unbekannter, der für Aufregung sorgt. Ganz nach meinem Geschmack.»
«Kannst du so gut Französisch?», fragt Susanne. «Ich möchte meines seit langem auffrischen. Aber ich komme zu nichts.»
«Was machst du denn die ganze Zeit?»
«Momentan miste ich das Haus aus.»
«Ziehst du um?», fragt Alice.
«Nein, wo denkst du hin. Ich räume auf, damit die Kinder es nach meinem Tod nicht tun müssen.»
«Wenn ich mir vorstelle, dass meine Tochter meine Stoffe und Schnittmuster fortwirft», Britt beendet den Satz nicht.
«Vermache sie dem Tanzclub», sagt Alice schnell, um eine Tirade ihrer ehemaligen Kostümschneiderin abzuwenden.
Fleur verstaut die Schultasche in ihrem Schließfach und überlegt, wo sie essen soll. Früher aß sie mit Sarah zu Mittag. Bei schönem Wetter am See oder im Park hinter der Kantine, bei Regen auf einer Fensterbank im Schulhaus. Sie blödelten herum, machten Hausaufgaben oder dösten. «Hallo Fleur, machst du mit uns Mittagspause?», fragen Manu und Lis von der Parallelklasse.
«Gerne. Wohin geht ihr?»
«Ich möchte bummeln», sagt Manu. «Lass uns auf dem Weg ein Sandwich essen.»
«Ich habe kein Geld, komme aber mit.» Lis schaut Fleur fragend an.
«Ist gut.» Außer wenn sie zwei Stunden Mittagspause hat, kommt Fleur nicht zum Bummeln. Manchmal fragt ihre Mutter an einem Samstag, ob sie zusammen in die Stadt gingen, aber es kommt ihr albern vor, mit der Mutter Kleider auszusuchen. Wie sie «Das würde dir stehen» oder «Ist das nicht zu bunt für mich?» sagt. Wie sie vor dem Spiegel steht, die Hände in die Taille stützt, sich mustert. Das Gesicht, mit dem sie die Verkäuferin ruft. Mutter weiß, dass ihr Buntes steht, warum fragt sie. Zu Fleurs weißer Haut und den roten Haaren passen nur Schwarz und Weiß.
Am Fuß des Schulhügels kaufen sie Sandwiches und fahren ins Stadtzentrum. Im Tram kommentiert Manu laut das Aussehen von Passantinnen. Eine mit viel Make-up deckt sie ein mit «Wo weniger drin ist, ist mehr drauf». Über eine Geliftete am Gehstock spöttelt sie «Mein Mann geht jetzt mit einer Jungen aus – mit mir». Mit einem Ruck steht sie auf, stolziert durch den Wagen, als wäre er ein Laufsteg. Manu und ihre Parodien. Keine im Theaterclub ist lustiger. Alle kennen Manu. Und wer Manu kennt, kennt Lis, die Freundin, die sich um Bühnenbild, Requisiten und Kostüme kümmert. Lis, die weiß, was in Secondhand-Läden und Brockenhäusern zu finden ist, und einen Grafiker zum Freund hat, der schon 23 Jahre alt ist.
Die Passagiere beobachten Manu aus den Augenwinkeln, nur ein Kind dreht sich nach ihnen um. Hätte Fleur doch die Kamera nicht in der Schule gelassen. In Begleitung von Manu und Lis würde sie sich trauen, in der Umkleidekabine zu fotografieren. Mit Sarah ging sie einmal in ein Fünfsternehotel. Sarah posierte am Frisiertisch in der Toilette, im Lift, im Flur. Alleine hätte Fleur nicht einmal den Mut gehabt, hineinzugehen.
Im Laden dirigiert Lis Manu und Fleur in eine Ecke mit Kleidern aus großblumigen Stoffen. Fleur hält sich eine Tunika vor den Oberkörper und schaut in den Spiegel. Zu Sarahs Schneewittchenhaar sähe sie hübsch aus, aber an ihr? Sie hängt die Tunika zurück und durchstöbert die T-Shirts. Ein weißes mit Rüschen ums Décolleté gefällt ihr. Lis zeigt auf ein Jeanskleid: «Das sähe an dir super aus.»
Fleur mustert es. «Meinst du?».
«Ich würde es mit Häkelsocken kombinieren», sagt sie. Fleur weiß nicht, wie sie Lis verstehen soll. Ist sie schlecht angezogen, dass sie ihr Tipps gibt? Oder tut sie es, weil ihr
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