Nochmal tanzen - Roman
Theke und nicht im Krankenhaus. Der Fernseher wird eingeschaltet sein, eine samtene Männerstimme für Puder werben, das Wort «sabai» (Wohlgefühl) wird fallen. Vielleicht ruft jemand nach mir, weil er Mückengift kaufen möchte. Der Ventilator kühlt meine kalte Stirn, Pong ruft einen Arzt, putzt und weint. Und ich?
Zum Glück lebe ich in einem buddhistischen Land. Hier kann ich nicht in die Hölle kommen. Mir blüht höchstens ein weiteres Leben. Vielleicht als Ameise, vielleicht als Mönch. Oder als Tanzbär.
Alice, Du fehlst mir. Dir müsste ich nicht erklären, warum ich nicht zur Beerdigung meines Vaters gegangen bin. Hier bin ich deswegen ein Rabensohn. Thais haben kein Verständnis dafür, dass man sich nicht um die Verwandten kümmert. Uns besuchen fast täglich Pongs Neffen, Cousinen oder Geschwister.
Meine Liebe, fast hätte ich das Beste vergessen. Vor ein paar Tagen hat mir ein junger Kunde begeistert von einer Tanzparade erzählt. Das scheint so etwas zu sein wie unsere Idee von der walzernden Stadt. Schade, haben wir die Idee nicht verwirklicht.
So, jetzt muss ich abstauben im Laden. Lass mich wissen, wie es mit diesem Mann weitergeht.
Ich drücke Dich
Dein Martin
Alice stellt sich unter die Dusche und lässt Wasser über den Kopf laufen. Die tanzende Stadt. Paare walzern durch die Straßen, werden zum Fluss, der im Dreivierteltakt auf die Plätze strömt und die Passanten mitreißt. Menschen schwemmen aus Häusern, treiben im Kreis. Das Drehen macht sie schwindlig, doch sie fallen nicht, sie heben ab. Niemand kann sich dem Sog der Körper entziehen. Trams und Autos stehen still, weil ihnen tanzende Paare den Weg abschneiden und dabei selbstvergessen lachen. Selbst die Zuschauer, die sich den Tanzschritten verweigern, wippen mit Köpfen und Füßen, bis sich die Tänzer langsamer drehen, sich erschöpft auf den Asphalt sinken lassen und in den Himmel blicken. Alice bürstet ihre Haut. Sie wellt sich unter dem Druck. Ja, Martin, wir sind alt.
Nach der Morgentoilette schenkt sie sich Tee ein und setzt sich mit der Tasse an den Computer.
Lieber Tanzbär
Ob wir alt sind? Natürlich, nach so langer Zeit. Immerhin kennen wir uns schon über fünfzig Jahre! Auf dem frühsten Bild, das ich von Dir im Kopf habe, presst Du die Lippen zusammen und schaust an mir vorbei zu Boden. Das muss in einer der ersten Wochen des Tanzkurses gewesen sein. Du schobest mich herum, ich zählte die Takte. Waren wir das, Martin?
Schaue ich zurück, bist Du fast immer dabei. Mit niemandem habe ich so viel Zeit verbracht wie mit Dir, niemandem habe ich so viel erzählt. Von Dir weiß ich, wie ein Mann denkt und fühlt. Ich erinnere mich an Deinen ersten Risotto und an Deine Wut, weil wir an internationalen Turnieren als Provinzler belächelt wurden. Ich spüre noch, wie Du unter der Verachtung Deines Vaters gelitten hast. Unsere Panik vor dem Versagen ist Gott sei Dank weit weg.
Mein Körper ist nicht mehr der alte. Neulich habe ich mir den Nacken überstreckt, weil ich nicht einsehen wollte, dass ich mir selbst nicht mehr über die Schulter schauen kann. Irgendetwas tut immer weh. Mit Glück vergehen die Schmerzen nach der Gymnastik, manchmal begleiten sie mich tagelang. Der Arzt sagt, es handle sich um Abnützungserscheinungen. Solange es nur das ist. Anderen versagt der Kopf.
Im Haus gegenüber ist von einem Tag auf den andern eine Bewohnerin verschwunden. Letzte Woche sah ich einen Umzugswagen vor dem Haus. Junge Männer luden ein Bett samt Decke, eine Kommode und ein paar Taschen ein. Ich dachte, ein Untermieter ziehe aus oder jemand entsorge alte Sachen. Ich brachte den Wagen nicht in Verbindung mit der alten Nachbarin, die ich ab und zu am Küchenfenster sehe – sah, wie ich jetzt weiß. Die Vorhänge sind weg, und aus der Küche pfeift eine Malerin.
Ich nehme an, die Nachbarin ist in ein Heim gezogen. Ist sie noch einmal durch die Räume gegangen, bevor sie ins Auto gestiegen ist? Ist sie erleichtert, nicht mehr so viele Treppen steigen zu müssen? Oh Martin, obwohl ich denke, dass im Heim wohnen angenehme Seiten hat, graut es mir davor. Aufstehen müssen, wann es die Hausordnung vorsieht. Essen, was andere für mich kochen. Mit Menschen am Tisch sitzen, die sabbern. Die mir unsympathisch sind. Ich hoffe, es kommt nicht so weit.
Du wunderst Dich, dass ich es ruhiger nehme. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Seit ich nirgends mehr aushelfe, gibt es nichts mehr, das mich auf Trab hält. Da wäre Platz für
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