Nochmal tanzen - Roman
einen wie Alexander.
Sie schaut hinaus. Im Küchenfenster der weggezogenen Nachbarin spiegelt sich ihr Fenster. Auf dem Vogelbeerbaum hüpfen Vögel über die Äste.
Habe ich Dir schon von Elsa und Susanne erzählt, mit denen Britt und ich ab und zu Kaffee trinken? Ich kenne sie vom Seniorenturnen. Elsa war früher Köchin im «Sternen», dem Gasthof im Dorfzentrum. Dank ihr hat sich meine Rezeptsammlung um ein paar Köstlichkeiten erweitert. Rindsröllchen mit Randen und Meerrettich gefüllt, Auberginen an Granatapfelsauce, Erbsenpüree mit Pfefferminze. Susanne ist mit einem ehemaligen Direktor verheiratet, lebt in einem großen Haus und ist immer auf Trab. Einladungen geben, Kurse besuchen, einer Nachbarin bei der Administration helfen, Enkel hüten, Coiffeur, Pédicure, Manicure, Lifting. Es ist eigenartig. Ihre Haare und die Stirn sind die einer jungen Frau, ihr Gang, ihr Denken, Stimme und Hände die einer alten. Als sie letztes Mal bei mir zum Kaffee war, mussten Britt und ich ihr helfen, vom Sofa aufzustehen. Britt lässt Dich übrigens grüßen.
Du siehst, mein Leben ist zum Wunschprogramm geworden. Manchmal fällt mir nichts ein, das ich wünschen könnte. Ich sage mir, «Der Schrank müsste wieder einmal herausgeputzt werden» oder «Du wolltest schon lange einmal ins Textilmuseum». Statt etwas zu tun, sitze ich da, sitze und warte darauf, dass etwas geschieht. Aber es geschieht nichts.
Ich bewege mich zwischen Dorfzentrum, Küche, Wohnzimmer und Balkon. Im Dorfzentrum schwatze ich mit der Verkäuferin, in der Küche sehe ich zu den Nachbarn hinüber, vom Wohn- und Arbeitszimmer auf den Vogelbeerbaum. Die beste Sicht aufs Leben habe ich vom Balkon aus. Ich sehe die Katzen. Die Nachbarinnen. Spaziergänger, Autos, Vögel.
Die Katzen sitzen und warten den ganzen Tag. Ob sie wissen, worauf? Wenn die Nachbarinnen sie streicheln, reden sie mit ihnen. Ich höre nicht, was sie sagen. Aber sie reden. Immer. Kann man streicheln ohne Worte? Zur Straße hin balancieren kleine Kinder an der Hand von Großvätern und Großmüttern auf einem Mäuerchen. Die größeren rennen ihnen voraus oder bummeln hinterher. Auf dem Dachfirst gegenüber trippeln Krähen und beäugen die Rotkehlchen und Drosseln im Vogelbeerbaum. Inzwischen kann ich das Zwitschern der Vögel unterscheiden. Ich höre, wann sich eine Katze anpirscht. Da staunst Du, nicht?
Du schreibst vom Tod. Warum auf einmal? Mir fällt es schwer, das Wort in Verbindung mit Dir zu gebrauchen. Als würde ich ihn damit anlocken. Er muss fernbleiben, Martin! Unvorstellbar, plötzlich nichts mehr von Dir zu hören. Bitte sag Pong, er soll mich benachrichtigen, wenn Dir etwas zustößt. Schrecklich, die Vorstellung. Schrecklicher als mein Tod. Stirbst Du, fehlst Du. Sterbe ich, hebt sich alles auf. Das Erdenkliche, das Erdenkende. Aber ich will noch nicht. Da muss noch etwas kommen.
Dass Du in Buddhas Gebiet nicht in die Hölle geschickt wirst, ist einerseits beruhigend. Andererseits entgehen Dir die nackten Männer dort. Na ja, vielleicht ist Ameisensex auch reizvoll. Ach Martin, lass uns das Leben anlocken und den Curry genießen, so gut und so lange wir können!
Herzlich
Deine Alice
PS: Welches sind die Bedingungen, um als Katze wiedergeboren zu werden?
Sie schickt die Nachricht ab und lehnt sich zurück. Und jetzt? Der Dachfirst ist leer. Sie steht auf, geht zum Telefon und wählt die Nummer der Radiostation. «Ich habe Ihnen einen Brief geschickt mit der Bitte, ihn an den Hörer Alexander Seibt weiterzuleiten. Da ich nichts von ihm gehört habe, wollte ich mich erkundigen, ob Sie ihm den Brief weiterleiten konnten.» Ihr Atem reicht fast nicht für alle Worte. «Ich habe gehofft, dass Sie anrufen», sagt die Redaktorin freundlich. «Herr Seibt bat mich, Ihnen seine Telefonnummer zu geben. Haben Sie etwas zum Notieren zur Hand?» Alice eilt in die Küche und schnappt sich den Kugelschreiber, der neben der Einkaufsliste liegt. Die Nummer gerät groß und krakelig unter «Magerquark». Sie wiederholt sie zwei Mal, um sicherzugehen, dass sie sich nicht verschrieben hat. Bevor sie den Hörer auflegt, bittet die Redaktorin um Nachricht, falls sie Alexander treffe. «Das wäre eine wunderbare Geschichte.»
Fleur hastet durch die Bahnhofshalle. Immer diese Leute. Hetzen, rempeln, jämmerlich, die Menschen. Immer muss sie aufpassen, dass niemand in sie hineinläuft. Immer schneidet ihr jemand den Weg ab, zwingen Rollkoffer sie zum Ausweichen. Jeden Tag das
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