Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
gehörte die Schrift nicht Morbus und die Tinte war weder mit Blut gemischt noch übte sie irgendeinen Sog auf sie aus. In säuberlichen schwarzen Lettern stand geschrieben:
Meine liebe Nichte!
Die Nachricht der jüngsten Ereignisse hat mich erreicht und zutiefst erschüttert. Heute Abend war die Polizei da, morgen früh wollen sie wiederkommen. Ich lasse diese Nachricht bei dem Marder zurück, den ich für Deinen Freund halte, und reise noch heute Nacht ab. Dein Onkel wird sich um die Misere kümmern. Dich aber bitte ich, unverzüglich die Stadt zu verlassen. Am Haupttor des Parks steht eine Kutsche bereit, um Dich außer Gefahr zu bringen. Im Hause eines Freundes wartet auf Dich in großer Sorge
Deine liebe Tante Nevera
P. S.: Deine Amme ist bei mir.
Apolonia las den Brief ein zweites Mal durch und wurde noch verwirrter. Nevera? Ihre Tante ? Woher kannte sie Knebel? Woher wusste sie von ihm? Apolonia erhob sich langsam, den Brief in der Hand, und schüttelte ungläubig den Kopf. Es gab nur einen Weg, Antworten zu bekommen.
»Was ist das?«, fragte Vampa, doch es klang nicht, als ob er wirklich interessiert wäre. Jedenfalls verzichtete Apolonia darauf, seine Frage zu beantworten.
»Das Haupttor…«, murmelte sie. »Vampa, weißt du, wo hier das Haupttor des Parks ist? Bringst du mich hin, bitte?«
Er nickte knapp, warf Knebel einen Blick zu, dann dem
Brief in Apolonias Hand und wieder ihr. Das Blutbuch fest im Arm, setzte er sich in Bewegung.
Knebel lief eine Weile neben Apolonia her, dann sandte er ihr einen Abschiedsgruß und verschwand im Dickicht, um auf Mäusejagd zu gehen. Apolonia registrierte sein Verschwinden kaum. Sie las noch einmal den Brief durch. Aber es blieb ihr ein Rätsel, wie ausgerechnet ihre Tante ihn hatte schreiben und an Knebel übergeben können. Wie hatte Nevera es bloß geschafft, dem wilden Marder einen Brief um den Hals zu hängen und ihm zu erklären, dass dieser für Apolonia bestimmt war? Es gab nur eine einzige Erklärung. Aber das war … Apolonia schüttelte unwillkürlich den Kopf. Unmöglich!
Und wenn es doch stimmte …
»Da vorne ist das Haupttor.« Vampa wies voraus. Am Ende des Kieswegs schimmerte ein von vereistem Efeu umwucherter Torbogen. Apolonia atmete tief ein, als sie am Straßenrand eine Kutsche sah.
»Apolonia.« Vampa berührte ihren Arm und blieb stehen.
Sie drehte sich zu ihm um.
»Wo gehst du jetzt hin?«, fragte er.
Apolonia hielt das zusammengerollte Papier hoch. »Dieser Brief ist von meiner Tante. Sie wird uns helfen. Mir, Tigwid und vielleicht auch dir, damit du dein Blutbuch findest. Wenn du möchtest, kannst du mitkommen.«
Er nickte und Apolonia rang sich zu einem zögerlichen Lächeln durch. »Ich würde jetzt sagen: Hab keine Angst. Aber die hast du ja bestimmt nicht.« Fast glaubte sie, ein Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen, aber sie, wandte sich gleich wieder ab und schritt auf die Kutsche zu. Hinter sich hörte sie bald Vampas Schritte. Sonderbarerweise war sie froh darüber. Denn obwohl sie gesagt hatte, der Brief sei von Nevera - und sie hoffte es inständig -, befürchtete sie etwas
ganz anderes… Womöglich hatten die Dichter ihre Tante entführt, sie gar manipuliert. Das Ganze roch nach einer Falle. Aber was blieb ihr übrig, als darauf einzugehen? Wenn Nevera den Brief wirklich eigenhändig geschrieben hatte, war sie ihre letzte Hoffnung. Wenn nicht, war ohnehin alles verloren.
Mit einer angedeuteten Verneigung gab der Kutscher zu verstehen, dass er auf sie gewartet hatte. »Guten Morgen, Fräulein Apolonia.« Sein Blick schwenkte zu Vampa und er erschrak kaum merklich vor seinem toten Gesicht. Dann fand er seine Stimme wieder und fuhr fort: »Mein Herr schickt Ihnen seine wärmsten Grüße. Auch Ihre Tante, Frau Spiegelgold, wünscht Ihnen einen guten Morgen. Wenn Sie erlauben.« Er öffnete die Kutschentür und reichte Apolonia eine Hand. Sie ließ sich in die Kutsche helfen und nahm auf der schwarzen Sitzbank Platz. Vampa schob sich an dem Kutscher vorbei und setzte sich neben sie.
»Wenn Sie gestatten.« Der Kutscher wollte gerade die Tür schließen, als Apolonia sich noch einmal zu ihm vorlehnte.
»Wer ist Ihr Herr?«
»Er ist der Graf von Caer Therin. Sagt Ihnen der Name etwas? Wahrscheinlich nicht.« Der Kutscher lief rot an. »Verzeihung«, stammelte er. »Ich wollte nicht sagen, dass Sie nicht wissen …«
»Caer Therin, das habe ich noch nie gehört.«
»Nun«, erklärte der
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