Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Kutscher, »mein Herr lebt sehr zurückgezogen auf seinem Landsitz. Caer Therin ist nur ein Dorf ohne viel Bedeutung. Was man von meinem Herrn natürlich nicht sagen kann«, beeilte sich der Kutscher zu sagen. Apolonia lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Fahren Sie los. Wie weit ist es bis Caer Therin?«
Der junge Mann war bereits auf den Kutschbock gestiegen und nahm Peitsche und Zügel in die Hand. »Oh, eine Weile
dauert es schon, fast eine Stunde. Ich werde die Pferde schneller laufen lassen, wenn Sie wünschen.«
»Tun Sie das.« Apolonia faltete den Brief in den Händen und blickte aus dem Fenster, als sie losfuhren. Die Stadt zog an ihnen vorüber. Ein Zeitungsjunge lief neben die Kutsche und bot ihr die neueste Ausgabe des Stadtspiegels an, doch Apolonia winkte ab. Kleine Märkte und Schaubuden sandten Lärm und Düfte in die Kutsche, als sie die betriebsamen Straßen der Innenstadt durchquerten. Sie sah die Gesichter von Passanten vorbeifließen, von Straßenkindern und eifrigen Händlern, von Schuhputzern, mausgrauen Angestellten und aufmerksamen Wachmännern. Apolonia schloss die Vorhänge ein Stück und lehnte sich zurück. Das Rattern und Ruckeln der Kutsche machte sie mit einem Mal schläfrig und trotz aller ungeklärter Rätsel breitete sich ein Gefühl träger Geborgenheit in ihr aus. Vampa saß dicht neben ihr und schien die Sitzpolster zu betrachten. Ja, aus irgendeinem Grund war Apolonia froh, dass er sie begleitete - egal ob sie eine Falle oder ihre Rettung erwartete, wenigstens ging sie nicht allein. Und dass zumindest einer von ihnen mit Gewissheit überleben würde, war doch irgendwie tröstlich.
Caer Therin
S ie verließen die Stadt und der Lärm der Menschen ver klang jenseits der Fenstervorhänge. Bald waren nur noch das Rattern der Kutsche zu hören, das Schnauben der Rösser und gelegentlich ein Rabenkrächzen. Apolonia warf wieder einen Blick nach draußen und erspähte eine verschneite Welt aus Feldern, Dörfchen und Wäldern. Die Aussicht wurde von kahlen Pappeln durchschnitten, die in immer gleichen Abständen die Straße säumten. In der Ferne hörte sie das Läuten von Kirchenglocken.
Immer noch drehte sie den Brief in den Fingern, rollte ihn zu einer unförmigen Papierwurst und glättete ihn wieder. Gedanken, Ängste und Hoffnungen tanzten ihr durch den Kopf, doch sie war zu erschöpft, um daran festzuhalten. Vampa saß mit leerem, dunklem Blick neben ihr, seine Hände lagen auf dem Blutbuch. Ob er nachdachte? Es schien ihr sinnlos, ihn zu fragen. Für eine Weile schloss sie die Augen. Ihr Kopf schaukelte angenehm mit dem Rumpeln der Kutsche hin und her. Sie musste an ihre Tante denken, das katzenhafte Lächeln und die schnurrende Honigstimme… dachte an die Polizei und eine vage Unruhe befiel sie wieder… Sie dachte auch an Tigwid und sah sein Gesicht vor sich; das gezeichnete im Blutbuch und das wirkliche. Ob er tatsächlich in irgendeiner
Zelle saß, zwischen dicken Steinwänden? Kurz kam ihr der Gedanke, er habe sich bereits befreit, mit irgendeinem Trick, den man nur als ausgebuffter Ganove kannte… Aber natürlich war das unmöglich, nicht mal Tigwid konnte aus dem Gefängnis ausbrechen. Selbst mit seinen Mottengaben und den übrigen verbrecherischen Talenten nicht. Und doch - irgendwie fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, dass er einer Situation hilflos ausgeliefert war. Warum bloß? Ja, warum eigentlich … Ganz unbemerkt überkam sie der Schlaf.
Apolonia öffnete überrascht die Augen, als die Kutsche mit einem Ruck anhielt. Sie richtete sich so schnell auf, dass es in ihren Ohren sirrte, und sah sich nach allen Seiten um.
»Wo sind wir?«, fragte sie und schob den Fenstervorhang zur Seite. Der Kutscher lief an den Pferden vorbei und öffnete ein hohes Eisentor. Die Kutsche stand auf einem breiten Kiesweg, der sich in die Höhe schlängelte. Auf ihrer Seite fiel der Weg in einem sanften Hang ab, auf dem sich eine Kolonie von knotigen Obstbäumen aus der Erde stemmte. Unterhalb des Gartens hockten aneinandergedrängte Bauernhöfe und rauchten aus verschneiten Kaminen. Das also war Caer Therin. Es war mehr ein zusammengewürfeltes Häufchen von Häusern als ein Dorf.
Noch weiter weg überzog ein dichter Wald die Landschaft; und dahinter, wie ein unförmiges, schmuddeliges Geschwür im weißen Gesicht der Welt, konnte Apolonia die Stadt ausmachen. Sie fühlte sich ein wenig bedrückt, als sie daran dachte, dass ihr ganzes Leben in diesem
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