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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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kein Zuhause. Keinen einzigen Freund. Ganz zu schweigen von der katastrophalen finanziellen Lage, in die ihr Vater sie gestürzt hatte. Sie war so hilflos, wie eine von Gesetz und Verbrechern gesuchte Halbwaise nur sein konnte.
    Während Apolonia mit den Tränen kämpfte, scharrte sie weiter mit dem Fuß im Kies und drosch mit der Schuhspitze auf die Steinchen ein, als sei das ganze Elend ihre Schuld.
    Dicht hinter sich hörte sie Vampa atmen, er machte einen Anlauf zu sprechen und verstummte wieder. Was wollte er denn jetzt noch von ihr? Apolonia merkte, wie seine bloße Anwesenheit sie reizte, dabei war er ja der letzte Mensch, dem sie noch mehr oder weniger vertrauen konnte. Ohne ihn war sie vollkommen verlassen. Aber mit ihm fühlte sie sich auch nicht sonderlich gestärkt.
    »Apolonia?« Er sprach ganz leise, als koste es ihn Mühe.
    Sie schloss kurz die Augen. Vampa konnte nichts dafür, dass alles schiefging. »Ja?«
    Weil er nichts mehr sagte, wandte Apolonia sich ihm zu, um den Grund für sein Rumdrucksen zu finden. Er sah sie
ernst und nachdenklich an, sofern man das an seinem Gesicht ablesen konnte.
    »Was ist denn?« Sie wartete, dass er etwas sagte. Aber es schien eine Angewohnheit von ihm zu sein, den Mund nicht aufzukriegen.
    »Was willst du? Was?«, schnappte Apolonia. »Guck mich nicht so belämmert an!« Ihr kurzer Wutausbruch schlug augenblicklich in Verzweiflung um. »Lass mich doch in Ruhe. Mein Leben ist zu Ende und du gaffst mich an wie eine Giraffe im Zoo!« Mit einem zittrigen Atemzug drückte sie sich Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel.
    »Tut mir leid, Poli«, hauchte Vampa. Ein Zucken ging um seine Mundwinkel, fast wie ein Lächeln sah es aus, und mit großen, offenen Augen blickte er sie an.
    Apolonia schielte zu ihm auf und konnte es nicht fassen. Der Kerl hatte nicht nur keine Gefühle, er wusste auch nicht, wie man mit den Gefühlen anderer Menschen umging.
    »Provozier mich nicht mit deinen Stielaugen, und wenn du mich noch einmal Poli nennst…« Sie verstummte verdutzt. Während sie sprach, hatte Vampa nervös die Lippen gespitzt und zu einer Seite verzogen. Genau wie Tigwid.
    »Was war das?«
    »Was?«
    »Das, das, das mit deinem Mund! Das ist doch Tigwids komischer Tick. Du kopierst ihn. Du kopierst Tigwid.« Ihr Blick wanderte verwirrt zu dem Blutbuch, das Vampa noch immer im Arm hielt. »Gib mir das Buch«, befahl Apolonia leise.
    Vampa wich zurück.
    Sie streckte die Hand aus. »Gib her!«
    Plötzlich knackte ein Ast hinter ihr. Das Bild einer geknebelten Frau blitzte in ihren Gedanken auf. Sie drehte sich um und sah, wie ein Marder aus den Büschen sprang. Überrascht
sandte sie Knebel ihr Bild zur Begrüßung, dann stopfte sie sich die zerknüllte Zeitung in die Manteltasche und kniete nieder. Der Marder strich unter ihren Händen hindurch, und Apolonia erkannte, dass Knebel einen kleinen, eingerollten Brief an einer Schnur um den Hals trug.
    Wer hat das da hingehängt?
    Knebels Schnurrbarthaare zitterten, als er Vampa sah. Doch der Junge kam nicht näher, weshalb auch Knebel es bei einem Fauchen beließ.
    Ein Geruch.
    Apolonia schüttelte den Kopf. »Ich kann doch nicht riechen wie du, es bringt mir also gar nichts, wenn du mir den Geruch der Person schickst.«
    Trotzdem schnupperte sie vorsichtshalber in ihre Gedanken hinein. Er roch nach Essig, nach Salz und irgendetwas Fettigem. Darüber lag ein Hauch von Verbranntem und süßlichem Alkohol.
    »Mhm.« Apolonia verengte die Augen. Es handelte sich also um einen Raucher, der Parfüm trug, darunter ein bisschen schwitzte. Behutsam nahm sie Knebel die Schnur mit dem Schriftröllchen ab. Selbstverständlich wusste sie bereits, von wem der Brief war - es gab nur einen, der einen Sinn darin erkennen konnte, einem wilden Marder einen Brief umzuhängen. Morbus, natürlich.
    Einen Augenblick wog sie die Schriftrolle unschlüssig in der Hand. Glaubte Morbus tatsächlich, dass sie nach allem, was sie über ihn und seine Gabe wusste, einfach so einen von ihm geschriebenen Brief öffnete? Sie biss sich auf die Unterlippe. Ich sollte den Brief wegwerfen, verbrennen, dachte sie. Bestimmt wartete auf dem Papier irgendein Manipuliersatz. Aber schließlich war sie eine Motte und sie war resistent. Eigentlich könnte sie es doch wagen… aus purer Neugier.

    Sie holte tief Luft und machte sich gefasst. Mit klammen Fingern glättete sie das Papier. Ein Auge zugekniffen, spähte sie auf die erste Zeile. Zu ihrer Überraschung

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