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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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gräulich braunen Fleck menschlicher Betriebsamkeit stattgefunden hatte, der flach zwischen Erde und Himmel klebte. Es kam ihr klein und unbedeutend vor.
    Die Peitsche knallte. Der Kutscher war wieder aufgestiegen. Pferdehufe knirschten auf Kies und Eis und die Kutsche
setzte sich erneut in Bewegung. Sie fuhren durch das Eisentor und gespenstische Eichen verschluckten die Aussicht auf die Obstgärten und Dörfer und die ferne Stadt. Apolonia strich sich über Augen und Stirn, um die Müdigkeit zu vertreiben, und ordnete, so gut es ging, ihre Haare. Sie fühlte ein paar grässliche Knoten, an denen sie sich später, wenn sie sich endlich wieder kämmen und waschen konnte, gewiss ein paar hundert Haare ausreißen würde. Nervös spähte sie aus dem Fenster. Sie fuhren in eiligem Tempo den Kiesweg hoch, die Schatten eines Wäldchens hetzten durch die Kutsche. Nach einer Weile machte der Weg eine Biegung und die Bäume wichen zurück. Vor ihnen eröffnete sich ein langer Garten. Gut hundert Meter weiter bildeten verschneite, zu schlanken Kegeln gestutzte Heckenbüsche einen Halbkreis um eine Terrasse mit einer weitläufigen Treppe und einem Springbrunnen. Die Terrasse führte zu dem imposantesten Haus, das Apolonia je erblickt hatte.
    Nun, es war nicht direkt ein Haus - eher ein Schloss. Das Hauptgebäude wurde von Türmen flankiert, die aus dem Boden und aus anderen Türmen hervorsprossen wie schwarze Pilze. Die zarten Schneehauben konnten den spitzen Dächern kaum ihre Bedrohlichkeit und schon gar nicht ihre erdrückende Mächtigkeit nehmen. Das Anwesen wirkte düster, obwohl die Fassade von unzähligen Fenstern durchzogen war, deren dunkles Glas die Wälder ringsum reflektierte. Es war ein Anblick von so unzweifelhaftem Reichtum, dass Apolonia unweigerlich den Atem anhielt - was ganz sicher der vom Besitzer gewünschte Effekt war.
    »Da sag noch mal einer, der Adel sei verarmt«, murmelte sie vor sich hin, während sie sich dem herrschaftlichen Schloss in einer Wegkurve näherten. Wie konnte es bloß sein, dass sie nie von dem Grafen von Caer Therin gehört hatte? Allerdings wollte Apolonia sich von der Pracht des Anwesens nicht zu
sehr beeindrucken lassen. Gut möglich, dass das Schloss alles war, was der Graf besaß. Wieso sonst würde man in dieser Abgeschiedenheit leben, fernab der Stadt und ihren Möglichkeiten?
    Die Kutsche hielt auf einem runden Platz, der sich an die Hinterseite des Hauptgebäudes schmiegte und einen Springbrunnen in seiner Mitte präsentierte. Die verschwenderisch breite Haustür wurde sogleich geöffnet, als Apolonia und Vampa ausstiegen, und ein Diener mit hochgeschlossenem Frack eilte ihnen entgegen.
    »Fräulein Apolonia Spiegelgold?« Der Diener verneigte sich, als Apolonia nickte. »Sie werden bereits erwartet. Wenn Sie erlauben?« Er wies zum Haus und verneigte sich abermals, als er Apolonia und Vampa den Vortritt ließ. Apolonia steckte den mittlerweile ziemlich mitgenommen aussehenden Brief in ihre Manteltasche und trat durch die Haustür.
    Zwei geschwungene Wendeltreppen aus Eichenholz, flankiert von geschnitzten Engeln so groß wie Apolonia, führten aus der Eingangshalle ins Innere des Hauses. Der Boden war mit weißen und schwarzen Marmorplatten gefliest. Hoch über der Haustür fiel Licht durch die Fenster und malte helle Streifen auf die rötlich schimmernden Holztüren, die rechts und links der Treppen die getäfelten Wände durchzogen.
    »Ihre Tante wartet im ersten Stock, mein Fräulein.« Der Diener wies eine der Treppen empor und wartete geduldig, bis Apolonia sich vom Anblick der eindrucksvollen Eingangshalle gelöst hatte.
    »Komm, Vampa«, sagte sie überflüssigerweise, denn er wich nicht von ihrer Seite und folgte sogar ihrem Blick überallhin. Der Diener trippelte hinterher.
    »Wenn Sie gestatten, der Korridor ganz links.« Sie erreichten den balkonartigen Vorsprung über den Treppen und gingen bis zum Korridor ganz links. Das Gemälde eines Mädchens,
das beim Lesen eines Buches weinte, bedeckte den Großteil der Wand.
    Der Korridor blickte durch eine Vielzahl von Fenstern auf den Wald des Anwesens hinaus. Die karamellbraune Wandtapete fing das Tageslicht auf und glänzte matt wie aus zahllosen Augen. Bei genauerem Hinsehen machte das verwirrende Muster Apolonia beinahe schwindelig.
    Der Gang mündete in ein schmuckes Vorzimmer. Der Diener vollführte abermals eine umständliche Verneigung.
    »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich vergaß zu fragen, ob ich Ihren

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