Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Mantel waschen lassen soll, Fräulein Spiegelgold. Und natürlich auch den Ihren, junger Herr«, fügte er mit einem zögerlichen Blick auf Vampa hinzu. Apolonia wippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab. Sie hatte keine Zeit, sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. Mit einer einzigen Schulterbewegung schüttelte sie ihren Mantel ab, pellte sich aus den Ärmeln und übergab ihn dem Diener.
»Hier, danke. - Nein, du nicht.« Energisch zog sie Vampa den Mantel vor der nackten Brust wieder zu. Dann wandte sie sich an den Diener. »Wo ist meine Tante?«
»Dieses Zimmer, mein Fräulein.« Der Diener hatte sich ihren Mantel bereits über den Arm gelegt und klopfte an die Tür. Gedämpft erklang die Erlaubnis einzutreten.
Es war ein helles Zimmer mit einer pfefferminzgrünen Tapete und einem minzgrünen Teppich. Das Mobiliar war, wie im ganzen Haus, in dunklem Holz gehalten, die Fenster hatten keine Vorhänge, dafür waren sie in lackierte Rahmen gefasst. Vor einem der Fenster stand Nevera Spiegelgold und drehte sich zu ihnen um.
Sie trug ein hauchdünnes blutrotes Chiffonkleid, das entweder Unterwäsche oder sehr gewagt war. Ihr dunkelblondes Haar war im Nacken zu einem eleganten Knoten gesteckt und auf ihrem katzenhaften Gesicht lag eine Mischung aus Sorge
und Erleichterung. Wenn sie tatsächlich von den Dichtern entführt worden und das Ganze eine Falle war, hatte man Nevera zumindest genug Zeit gelassen, sich herauszuputzen. Sie breitete die Arme aus und schwebte durch das Zimmer auf Apolonia zu, während ihr Zigarettenrauch aus dem Mund waberte. Apolonia hörte, wie der Diener diskret die Tür schloss.
»Meine Liebe!« Mit einer Hand, zwischen deren Zeigeund Mittelfinger der Zigarettenhalter klemmte, strich Nevera ihr über die Wange und umarmte sie zart. Dann wanderte ihr Blick zu Vampa. Ihre perfekt geschminkten Augen glänzten verstört.
»Ich… ich bin, bin froh, dass du so heil hier…« Nevera verstummte, als sie sich nicht von Vampas Gesicht losreißen konnte. Sie schluckte hörbar.
»Guten Tag, Nevera«, sagte Apolonia. »Darf ich vorstellen, das ist Vampa. Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich ihn mitgebracht habe.«
Nevera rang um ein Lächeln. »Durchaus nicht.« Sie zog an ihrer Zigarettenspitze und verbarg ihr Gesicht einen Moment lang hinter einer Rauchwolke.
»So kommt - setzt euch! Ich habe leider nur Frühstück für dich anrichten lassen, Apolonia, ich werde gleich nach einem Teller und einer Tasse für unseren Gast schicken.« Sie tänzelte zu einem ovalen Tisch, den mit grünem Samt bezogene Sofas umstellten. Brötchen, Toast und Croissants standen mit Marmelade, Honig und verschiedenen Käsesorten bereit, dazu gab es Rührei und Tee, Milch und duftenden Kaffee.
Nevera ließ sich auf einem der Sofas nieder und klingelte mit einem Glöckchen. »O bitte, nehmt Platz, setzt euch!« Sie wies mit ihrer Zigarette auf die umstehenden Sofas und Apolonia und Vampa setzten sich nebeneinander. Kaum hatte Nevera das Glöckchen wieder auf den Tisch gestellt, öffnete sich eine Nebentür, und ein Diener erschien. »Frau Spiegelgold?«
»Bring noch Teller und Tasse für eine dritte Person.«
»Wie Sie wünschen.« Er verschwand geräuschlos.
Nevera kämpfte offensichtlich gegen den Drang an, Vampa offen anzustarren. Verkrampft lächelte sie Apolonia an und befühlte den freizügigen Ausschnitt ihres Kleides. »So, und nun, nun erzähle mir, meine Liebe - erzähle mir alles und wie dir diese schrecklichen Dinge zustoßen konnten.« Bevor Apolonia den Mund auch nur öffnen konnte, seufzte Nevera weiter: »Ich habe mich so gesorgt, meine Liebe! Wenn du wüsstest, was für ein Schock es war, die Polizei zu empfangen, nachdem du verschwunden warst! Wieso bist du eigentlich verschwunden? Aber nein - mach dir keine Sorgen, ich bin dir nicht böse. Gewiss hattest du deine Gründe und du kannst sie mir anvertrauen. Ich höre dir zu. Es hat mich nur alles sehr mitgenommen, dein leeres Zimmer, dein verzweifeltes Kindermädchen, die Angst um dich …« Nevera schloss ergriffen die Augen.
»Es war auch für mich ein Schock«, erwiderte Apolonia, während sie daran dachte, was sie alles erlebt hatte. Doch in Neveras unbeschwerter Gegenwart, zwischen Samtkissen und frischen Brötchen, begannen all die Strapazen zu verblassen… War sie wirklich vor zwei Tagen noch durch die düstersten Winkel von Eck Jargo geflüchtet? Jetzt wo sie ein wenig Zeit hatte, darüber nachzudenken, konnte sie kaum fassen, in welcher
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