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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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immer strömte das Wasser aus seinen Augen.

    »Vamp… Vampi…«
    »Kennst du mich? Kennst du mich? Ist das mein Name?« Er machte drei Schritte auf sie zu. »Heiße ich so? Vampa ?«
    »Bist du ein Mensch?«, flüsterte Dotti.
    Nur die Tränen bewegten sich auf seinem Gesicht. »Ich weiß nicht. Du musst mir helfen, es herauszufinden.«
    Sie nickte zerstreut. Man durfte Geister nicht verärgern. »Ja«, hörte sie sich flüstern. »Ja, ist gut. Ich helfe dir. Ich tue, was du willst.«
    Eine halbe Stunde später saß sie mit dem Vampir in einem Hinterzimmer von Fräulein Friechens Teestube und zündete eine Petroleumlampe an. Seine Haut schimmerte im Licht wie Wachs.
    »Welchen Tee magst du?«, fragte Dotti. Sie hatte sich einigermaßen gefasst. Wenn man so lange wie sie unter Dieben, Verbrechern und anderem gefährlichen Gesindel lebte, gewöhnte man sich an die schlimmsten Situationen - und auch das Gespräch mit einem toten Jungen verlor schnell an Schrecklichkeit.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Vampa.
    »Was schmeckt dir am besten?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Na … dann probier mal Pfefferminz.«
    »Was bedeutet das, schmecken?« Er sah sie an, und Dotti war nicht sicher, ob er eine Antwort erwartete. »Ich weiß nicht, was schmeckt, was nicht schmeckt, was schön ist, was hässlich ist. Ich habe keine Meinung. Alles ist einfach da. Ich bin einfach da.«
    Dotti ließ sich langsam auf den Stuhl ihm gegenüber sinken.
    »Ist etwas, das nicht schön ist, nicht hässlich, nicht groß und nicht klein, nicht laut und nicht leise - ist das etwas Echtes?« Wie Trugbilder zerfielen seine klanglosen Worte.

    »Also, etwas, was nicht irgendwie ist , das gibt es nicht, würde ich sagen«, murmelte Dotti.
    Der Junge sah sie an. Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen, die nichts mit ihm zu tun zu haben schienen. »Dann gibt es mich nicht. Ich bin nichts … Ich, ich glaube, irgendwo da draußen existiert etwas, das einen Schatten wirft. Und der bin ich.«
    »Ein Schatten?«, wiederholte Dotti verwirrt.
    »Ich brauche Hilfe«, sagte Vampa. »Ich muss … lesen lernen.«
    »Lesen?«
    »Ich muss ein Buch lesen, das ich noch nicht gefunden habe. Kennst du jemanden, der mir hilft, lesen zu lernen?«
    Dotti schluckte schwer. »Ich brauch jetzt erst mal einen Schnaps«, murmelte sie, änderte ihre Meinung jedoch und holte eine Pralinendose hervor, die sie zwischen sich und den Vampirjungen stellte.
    »Noch besser. Nimm dir hier was.« Wenn sie eines von ihren Eltern gelernt hatte, dann, dass Schokolade einen weitaus größeren Beruhigungseffekt besaß als Alkohol. Sie öffnete die Dose und steckte sich gleich vier Nougattrüffeln auf einmal in den Mund.
    »Vampa, hast du gesagt, heißt du?«, nuschelte sie und schob sich die klebrige Schokolade in beide Backen. »Passt ja. Also, gibt es eigentlich ein Leben nach dem Tod?«
    Der Junge nahm sich eine Nougattrüffel und nagte ein winziges Stück ab. »Die Frage«, sagte er tonlos, »ist, ob es einen Tod gibt ohne Leben.«
    Dotti begriff nicht. Erst in den nächsten Wochen würde sie anfangen zu verstehen.
     
    Sie suchte einen Mann, der in ihrer Schuld stand, als Lehrer für Vampa aus. Der Junge lernte eifrig. Dotti sah ihn niemals
schlafen, niemals essen, mit keiner Menschenseele sprechen. Pausenlos las er und lernte die Buchstaben und ihre Klänge auswendig. Als er versuchte, selbst zu schreiben, führte er die Feder wie ein Gelehrter und brachte ein wunderschönes M zu Papier.
    Sein Lehrer fürchtete sich vor ihm. Immer wieder wollte er von Dotti wissen, wer der Junge war, bis sie ihm endlich sagte, er sei der Sohn eines verstorbenen Freundes.
    »Nein«, antwortete der Mann plötzlich. »Dieser Junge … ist kein Junge! Er ist nicht menschlich!«
    »Das sagt der Richtige, ein Mörder, der sich für jeden neuen Kopf einen Strich in den Arm ritzt!«
    Darauf schwieg der Mann. Nach einer Weile brauchte Vampa ihn nicht mehr. Er lernte das Lesen innerhalb von wenigen Wochen, als würde er lediglich etwas wiederentdecken, das er einst verlernt hatte.
    Dotti verlor ihre Angst vor dem Jungen nicht: Nie würde sie wagen, ihn fortzuschicken oder ihm einen Wunsch abzuschlagen. Sie nahm ihn hin, wie man einen Geist hinnimmt, der in einem Haus spukt. Allerdings verwarf Dotti den Verdacht, er sei ein Vampir; denn er bewegte sich im Sonnenlicht und wich den Menschen eher aus, als dass er sie anfiel. Auch auf die Knoblauchzehen, die Dotti überall versteckte, reagierte er nicht. Und doch, er

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