Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
war kein Mensch, das war gewiss. Dotti fand sich mit der Erklärung ab, dass er ein Dämon war, gefangen im Körper eines Jungen. Sie stellte keine Fragen, als er zu essen aufhörte, sagte nichts, als er nach jedem Boxkampf, in dem sie ihn kämpfen ließ, halb tot ging und am nächsten Morgen unversehrt zurückkam; sie wollte nicht wissen, welchem geheimnisvollen Ziel er nachhetzte und aus welchem Schlupfwinkel der Hölle er stammte. Sie blickte blind an allem vorbei, als er sich über die Jahre hinweg nie veränderte und nach sieben Jahren noch der unheimliche
Vierzehnjährige war, den sie an jenem unglückseligen Herbsttag im Dreck gefunden hatte. Dotti führte ihr Leben fort, als wäre nie etwas geschehen.
Nur ihr Schokoladenkonsum erhöhte sich.
Drei Monate lang hatte Vampa keinen Bissen zu sich genommen. Zuletzt hatte er sogar aufgehört zu trinken.
Das war vor sieben Jahren gewesen, als er das erste Mal versucht hatte zu sterben. Es waren bereits zwei Jahre vergangen, seit er am Straßenrand erwacht war, ohne Erinnerung und Identität. Zwei Jahre lang hatte er sich nicht verändert … Jede Nacht geschah es: Sein Haar wuchs zu seiner alten Länge zurück, egal wie kurz er es abgesäbelt hatte. Alle Verletzungen heilten, alles wurde rückgängig gemacht, es war wie eine unheilvolle Ebbe, die das Meer nach jeder Flut wieder zurückzieht. Vampa hatte keine Macht über seinen Körper. Doch er konnte entscheiden, ob er aß.
Es fiel ihm anfangs schwer, aufs Essen zu verzichten. Nach einer Woche spürte er den Hunger nur noch als steten, pochenden Schmerz, der seine Existenz überschattete. Nach einem Monat wurde ihm häufig schwindelig, er fiel in Ohnmacht oder wurde kurzfristig blind. Andere Male bekam er Bauchkrämpfe, ihm wurde eiskalt, während sein Magen heiß brannte, und ihm fielen die Haare aus - aber jeden Morgen waren sie wieder da, nur um aufs Neue auszufallen. Er konnte nicht einmal verhungern.
Schließlich ging er zu Dotti nach Eck Jargo und bat sie um Arbeit, damit er wieder essen konnte. Er brauchte das Essen nicht - nach jeder Nacht war er ja wieder so wohlgenährt wie am Morgen davor -, und doch musste er essen, damit die Schwindelanfälle und Krämpfe vergingen.
Eine Weile putzte er Gläser in der Wiegenden Windeiche , aber dabei verlor er ganze Nächte, obwohl er doch nach dem
Buch suchen musste … Er brauchte eine andere Arbeit. Als er Dotti bat, ihn boxen zu lassen, willigte sie ein. Sie erlaubte ihm alles, verwehrte ihm nichts.
Ob er ihr dankbar war? Vampa wusste es nicht. Er fühlte nichts für Dotti, so wie er für einen Stein, einen Stock, ein Blatt nichts gefühlt hätte. Ebenso wenig empfand Vampa, als er das erste Mal in Bluthundgrube antrat.
Die Zuschauer grölten vor Erregung, und Vampas Gegner, ein Mann wie ein Stier, glühte ihn an, bereit, ihn zwischen den Fäusten zu zermalmen.
»Nimm ihn auseinander!«, schrien die Zuschauer in roher Begeisterung und flatterten mit ihren Wettzetteln. »Brech den Burschen entzwei !«
Der Boxring war nur durch Seile vom Publikum getrennt. Die Klingel schrillte. Schon traf Vampa die Faust seines Gegners am Kopf. Die Wucht ging ihm durch die Knochen wie der Einschlag einer Bombe. Er fiel gegen die Seile und wurde von hundert heißen, begierigen Händen zurück in den Ring gestoßen. Vampa stolperte gegen den Boxer. Er spürte nicht mehr, wo ihn der nächste Schlag traf, er wusste nur noch von den Wellen des Schmerzes, die ihm durch den Körper rollten und in tausend dröhnende Lärmsplitter zerschellten. Der Schmerz war fern, mehr so wie das unangenehme Gefühl, das man hat, wenn man von intensiven Schmerzen liest.
Als Vampa zu sich kam, kümmerten sich die Tänzerinnen aus der Roten Stube um ihn. Langsam schlug er die geschwollenen Augen auf, und manche Tänzerin stieß Schreie aus, denn sie hatten ihn für tot gehalten. Kein Zahn war ihm geblieben und sein Rückgrat war gebrochen.
Am nächsten Abend trat er gegen denselben Boxer wie am Vortag an. Es war das erste Mal, dass er Bluthundgrube vollkommen geräuschlos erlebte. Keiner gab einen Mucks von sich. Die Gäste starrten den Jungen an wie einen Geist. Aufrecht
stand er im Ring mit seinem Rücken, der nicht mehr gebrochen war, und seiner Nase, gerade und scharf geschnitten ohne die blutigen Risse.
Da begann der Boxer vor ihm zu schluchzen. Er stolperte zurück, seine Augen wurden irr. Vampa versetzte ihm einen Kinnschlag, und der Mann ließ sich auf den Boden fallen, wo er wimmernd
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