Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
soll’s. Nun komm, Morbus und die anderen warten unten, um mit uns anzustoßen.«
In dem Saal, in dem das Fest stattfinden sollte, erwarteten sie Morbus, die Dichter und Elias Spiegelgold. Die Männer rauchten Zigarren und nahmen einem wartenden Diener die Sektgläser ab, als Nevera und Apolonia zu ihnen traten. Sie stießen an und tranken. Während die Erwachsenen plauderten,
drehte Apolonia ihr Sektglas in der Hand und sah nachdenklich zum beleuchteten Park hinaus, der jenseits der Fensterfronten lag. Das Streichquartett begann zu spielen, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Gäste kamen. Freunde der Dichter aus Presse und Kunst trafen auf Bekannte der Spiegelgolds, deren Namen nicht nur in politischen Versammlungen und Gerichtshöfen für Aufhorchen sorgten. Obwohl das Neujahrsfest nicht so groß war wie die Feier zu Neveras achtem Hochzeitstag, war der Saal schon bald mit Frack tragenden Herren und bunt gekleideten Damen überfüllt. Apolonia blieb eine Weile im Kreis der Dichter stehen; dann wurde einer nach dem anderen fortgeschwemmt, von einer Menschentraube zur nächsten, von einem Wangenkuss und leichten Wort zum anderen. Am Ende kam jeder beim Büfett an, wo wieder ein bekanntes Gesicht erspäht und mit mehr Sekt angestoßen wurde. Auf der Tanzfläche amüsierten sich die jüngsten und ältesten Gäste.
Als Apolonia auf die große Wanduhr blickte, war es bereits elf Uhr. Etwas abseits stand Elias Spiegelgold mit seinen Kollegen, am anderen Ende der Halle hielt Nevera Hof, umzingelt von einigen Damen und Dichtern. Apolonia entdeckte auch zwei Journalisten und den Redakteur des Stadtspiegels , die auf dem Weg zum Büfett auf sie zukamen. Mit dem Redakteur hatte sie bereits ein paar Worte gewechselt und war nun in keiner Stimmung, noch ein Gespräch anzufangen. Unbemerkt bewegte sie sich durch die Menge fort.
All die lachenden Menschen kamen ihr plötzlich so leer vor. Unter ihrer Schminke und ihren teuren Kleidern und dem Zigarrenqualm waren sie nackt, gesichts- und geistlos. Bekämpften sie für diese Leute den Treuen Bund? War wirklich alles nur dafür… Bewusst brach Apolonia diese Gedanken ab. Manchmal hatte sie Angst, dass diese verfluchten Zweifel angelesene Gedanken von dem Mädchen Loreley waren.
Wo war eigentlich Morbus? Sie hatte ihn zuletzt mit Nevera tanzen gesehen; danach hatte Elias Spiegelgold ihn abgelöst und war bis jetzt an der Seite seiner Frau geblieben.
Apolonia strich durch den Saal und hielt nach Morbus Ausschau, doch er war nirgends zu entdecken. Sie stellte ihr Glas auf dem Tablett eines Dieners ab und verließ das Fest.
Der fröhliche Lärm klang im Korridor gedämpft. In den Schatten eines Türbogens verbargen sich zwei kichernde Gestalten. Apolonia ging etwas schneller. Dann erspähte sie die Tür zum Esszimmer, die einen Spalt geöffnet war. Mattes Licht fiel in den Korridor hinaus. Langsam schob Apolonia die Tür auf. Ein hohes Feuer flackerte im Kamin, ansonsten war kein Licht im Raum. Neben der Tür zum angrenzenden Salon spielte ein Grammofon einen trägen, schräbbeligen Walzer. Im Sessel vor dem Kamin saß jemand. Apolonia ging um den Tisch herum, um die Person zu sehen, und blieb neben dem Grammofon stehen. Morbus ließ sich nicht anmerken, ob er sie wahrgenommen hatte. In der linken Hand hielt er ein Glas, das bis zum Rand mit Whiskey gefüllt war. Abwesend starrte er in die Flammen.
»Jonathan?«, fragte Apolonia schließlich. »Alles in Ordnung?«
Er reagierte erst nicht; dann prostete er ihr zu und trank. Apolonia beobachtete, wie der Whiskey in seinem Mund verschwand. Er hustete.
»Auf der Flucht vor dem Fest?«, bemerkte Apolonia mit einem kleinen Lächeln.
»Flucht ist gut«, murmelte er und blickte wieder ins Feuer. »Flucht wäre gut… aber letzten Endes können wir nichts an der Jämmerlichkeit unserer eigenen Natur ändern.« Er grinste breit, als hätte er einen ironischen Witz gemacht. Trotzdem schien er gar nicht wirklich mit ihr zu reden. Dann verzerrte sich sein Grinsen zu einem Ausdruck von Abscheu.
»Wir mögen sie verbergen, hinter klugen Worten, hinter unserer Intelligenz und unserem Glanz und all den oberflächlichen Hüllen der Schönheit. Wir können für Augenblicke vergessen, wie erbärmlich wir und unser ganzes Dahinleben sind. Wir können die Wahrheit schönreden. Sagen, dass die Liebe der Sinn aller Gefühle ist. Aber Liebe ist ein wildes Kraut, das auf dem Misthaufen Gehirnimpuls und Trieb wächst. Liebe!« Er stieß ein
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