Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
ihren eigenen Vorteil zu nutzen. Wir vom Treuen Bund haben erkannt, dass dem nur Einhalt geboten werden kann, wenn unsere Gaben bekannt gemacht werden - und nur noch für das Wohl der Gemeinschaft eingesetzt werden dürfen. Nämlich in der Politik. Wir wussten aber auch, dass es Jahrzehnte dauern würde, um die Menschen von uns zu überzeugen. Darum setzten wir alles auf eine Karte und planten, die schwache Regierung zu ersetzen. Es war alles perfekt geplant. Die friedlichste Machtübernahme in der Geschichte sollte stattfinden, denn wir wollten niemanden umbringen. Doch kurz vor unserer Aktion wurde Magdalena, eines unserer begabtesten Mitglieder, umgebracht. Damit hatten die Motten, die gegen uns waren, den Plan vereitelt. Alles ging schief. Menschen starben. Zuletzt gelang uns zwar die Flucht durch den Grünen Ring, doch drei von uns wurden festgenommen und hingerichtet. Die Verräter waren Nevera, Morbus und seine Anhänger, die sich fortan Dichter nannten. Und nun, nach acht Jahren, sind sie so weit gekommen, dass ihre Machtübernahme kurz bevorsteht. Sie haben Apolonia auf ihrer Seite. Das macht sie zuversichtlich; nun da sie sich sicher sind, dass die Prophezeiung zu ihren Gunsten eintritt, hält sie nichts mehr zurück. Die Einzigen, die sie noch aufhalten könnten, sind wir, Freunde.«
Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr schlich unerträglich langsam dahin. Apolonia verließ das Haus kein einziges Mal und saß so lange vor dem Kamin, lag in ihrem Bett, trank Tee und las Bücher, bis sie sich vor Trägheit in Brei zu verwandeln glaubte. Seit jener nächtlichen Unterhaltung mit
Tigwid hing eine düstere Wolke über ihr und machte sie schweigsam und grüblerisch. Den Grünen Ring hatte sie Morbus und Nevera gegenüber zwar erwähnt, doch dass Tigwid in ihr Zimmer gekommen war, behielt sie aus gutem Grund für sich. Sie hatte die Möglichkeit gehabt, ein Mitglied des Treuen Bunds unschädlich zu machen. Sie hätte ihn sogar zwingen können, ihr die Funktionsweise dieser merkwürdigen Zaubertür zu erklären und zu verraten, wo sich der TBK versteckte. Wieso hatte sie ihn so leicht davonkommen lassen? Wann immer sie sich diese Frage stellte, wurde sie noch mürrischer und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Dass Nevera und Morbus ein Neujahrsfest in Caer Therin planten, kam ihr gerade recht - so konnte sie sich mit Kleiderproben, Einladungskärtchen und der Überwachung der Vorbereitungen ablenken. Nevera hatte gesagt, dass die wichtigsten Leute aus Politik und Gesellschaft anwesend sein würden, und das Fest war die Gelegenheit, ihren Kampf gegen den TBK durch gute Kontakte zu verstärken. Apolonia betrachtete Silvester als öffentlichen Auftritt: Je erwachsener und seriöser sie sich gab, desto glaubwürdiger und einflussreicher würde sie werden.
Manchmal, wenn sie ihre Pläne und Strategien lange mit Nevera oder Morbus besprochen hatte, vergaß sie, wofür sie das alles tat. Dann musste sie sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass es darum ging, die Menschen vor der Vorherrschaft böser Motten zu bewahren. Und, ganz ursprünglich, dass sie ihre Mutter und ihren Vater hatte rächen wollen.
Ihr Vater … sie hatte ihn seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Es war das erste Mal, dass sie Weihnachten ohne ihn verbracht hatte. Aber das wirklich Schlimme war, dass ihr das erst am Nachmittag darauf bewusst wurde; sie hatte kein einziges Mal an Heiligabend an ihn gedacht. Apolonia war so
bestürzt über sich selbst wie an dem Tag, an dem sie sich nicht mehr an das Gesicht ihrer Mutter hatte erinnern können.
Wo, wenn nicht bei den Menschen, die sie lieben sollte, waren ihre Gedanken bloß …
Neujahr
D ie Kutschen und Automobile zogen durch die Dunkelheit wie ein Schweif aus tanzenden Sternen. Schon von Weitem konnte man das Funkeln und Blinken der Lichter sehen, die sich Caer Therin auf der Landstraße näherten. Apolonia, die die lange Karawane vom Balkon des Anwesens aus beobachtete, seufzte tief. Aus der Ferne sah alles immer viel schöner aus.
»Apolonia? Apolonia!« Nevera, die zufällig am Balkon vorbeigelaufen kam, winkte sie herein. »Du erkältest dich ja! Komm sofort her.«
Apolonia gehorchte. Als Nevera die Tür geschlossen hatte, begutachtete sie Apolonia von oben bis unten. Sie trug ein silber- und cremefarbenes Kleid mit aufwendigen Perlenstickereien, und ihre Haare waren zu einem Kranz aufgesteckt. Nevera nickte zufrieden. »Du könntest ein wenig rosiger sein, aber was
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