Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
paar Kerzen gelöscht hatten, sah Loo Fredo das erste Mal seit ihrem Erwachen richtig in die Augen und seufzte plötzlich so glücklich wie ein Kind. »Ach … das hast du für mich geflochten? O Fredo, ich dich auch!«
Er starrte sie an, als hätte sie ihm einen Stern vom Himmel gepflückt. Mit zitternden Fingern berührte er ihr Handgelenk, an dem sie einen geflochtenen Reif trug. Dann schloss er sie in die Arme, und die beiden hielten sich umschlungen, der eine lächelnd, der andere weinend.
Tigwid beobachtete sie über den Rand seines Pokerblattes hinweg. Sie bewegten sich keinen Zentimeter voneinander, als würde die Zeit nicht mehr für sie existieren, und blieben wie versteinert in ihrer Umarmung. Schließlich seufzte Tigwid und warf seine Karten hin. »Ich bin draußen.« Das war mit Abstand das deprimierendste Weihnachtsfest seit Langem. Zudem hatte er die Hälfte seines Geldes an Zhang verloren, die trotz ihres Münzhaufens nicht viel fröhlicher aussah. Kein Wunder. Der Untergrund bot nicht gerade viele Möglichkeiten, um sich mit Geld eine schöne Zeit zu machen.
»Ich hab auch keine Lust mehr«, sagte sie und warf ihre Karten hin - Tigwid schielte auf ihre zwei Paare. »Wollen wir mal gucken, ob Erasmus und Rupert da sind? Vielleicht trinken wir alle eine heiße Schokolade im Arbeitszimmer, da ist es viel gemütlicher als hier.«
Bonni und Emil nickten. Mart schnarchte bereits in seiner Schlafecke; Fredo schien in Loos Armen in einer anderen Welt zu sein und Loo sowieso; Kairo zeichnete Kohlebilder, doch als die anderen aufstanden und den Grünen Ring öffneten, erhob er sich ebenfalls, um mitzugehen.
Als sie alle im Dunkeln standen, rief Zhang das Arbeitszimmer
herbei, und die runde Tür erschien. Das hieß, dass Collonta da war, denn sonst konnte niemand sein Zimmer betreten.
Als die Freunde aus dem Grünen Ring kamen, setzte Collonta eine fröhliche Miene auf. Wie immer war er nicht alleine, sondern in Begleitung von Rupert Fuchspfennig, der für Weihnachten seine abgetragenen Kleider gegen einen grauen Wollanzug getauscht hatte und mehr denn je wie ein Buchhalter aussah. Außerdem waren Laus und eine weitere Frau anwesend, die Tigwid nicht kannte.
»Frohe Weihnachten!«, rief Collonta und schüttelte jedem Neuankömmling die Hand. »Ich wollte gerade gehen und euch holen. Wo sind Mart und Fredo?«
»Fredo ist bei Loo, Mart schläft«, sagte Bonni.
»Ah, ja. Ich glaube, wir sollten Fredo ein wenig mit Loo alleine lassen. Der arme Junge tut mir fast noch mehr leid als Loreley.« Collonta schüttelte betrübt den Kopf. Dann zog er die Augenbrauen hoch und atmete tief durch. »Nun, Julesa war so lieb und hat uns allen Weihnachtspunsch mitgebracht. Darf ich euch einschenken?«
Collonta lief zu einem Bücherregal, zog einen Satz Gedichtbände heraus und holte mehrere Gläser aus einem Geheimfach dahinter.
Die Frau - Julesa - trat nervös einen Schritt vor und zurück. »Äh, ich bin spät dran. Ihr seid nicht böse, wenn ich schon gehe …«
Collonta kam zum Tisch zurück und goss in jedes Glas Punsch ein. »Jetzt schon?«
»Es ist doch Weihnachten. Und meine Familie …«
»Stimmt, ich vergaß.« Als ginge Collonta ein Licht auf, deutete er auf Tigwid und überreichte ihm ein Glas. »Natürlich, die liebe Familie. Aber davor muss ich dir unser neuestes Mitglied vorstellen: Tigwid. Tigwid, das ist Julesa Abdahl -
keine Sorge, Tigwid kann deinen Nachnamen ruhig erfahren, er gehört zu uns.«
Die Frau strich sich über die dunklen Haare und schien sichtlich beunruhigt. »Nett, dich kennenzulernen. Also dann, bis bald.«
Sie nickte allen noch einmal zu, dann murmelte sie, an Collonta gewandt: »War mir ein Vergnügen.«
Nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. Collonta gab Julesa einen Handkuss und sagte ernst: »Danke dir, Julesa.« Die Frau lächelte unsicher. Dann verblasste ihre Gestalt wie ein Geist - und einen Augenblick später war sie verschwunden.
Tigwid spähte nach links und rechts, um sicherzugehen, dass die anderen dasselbe gesehen hatten wie er.
»Julesa ist eine Wandlerin«, erklärte Rupert Fuchspfennig, der Tigwids Verwirrung bemerkte. »Was überdies hervorragend zu ihrer Vorliebe für schnelle Abgänge passt.«
»Nun, Julesa kommt aus einer angesehenen Familie und kann es sich nicht leisten, in eine kompromittierende Lage zu geraten. Wir müssen akzeptieren, dass sie ein Leben neben ihrer Mottenexistenz führt«, sagte Collonta und reichte Fuchspfennig einen Punsch.
Bonni
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