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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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wahr?«
    Morbus kippte sich den Rest des Whiskeys in den Mund und warf das Glas nach dem Grammofon. Scherben klirrten, die Schallplatte brach und der Walzer verstummte. Apolonia zuckte vor Schreck zusammen, doch Morbus lehnte sich so entspannt zurück, als höre er erst jetzt süße Musik.
    »Ah, Frédéric Chopin. Wunderschöner Dreck. Bitte lass mich alleine«, sagte er sanft. »Ich ertrage die Emotionalität in deiner Stimme nicht.« Seine Arme glitten schlaff von den Lehnen, seine Faust öffnete sich und die Pistole fiel zu Boden. Einen Moment stand Apolonia da, ohne sich regen zu können.
Dann trat sie rasch näher, hob die Pistole auf und ging aus dem Zimmer. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen und den Korridor zur Hälfte hinter sich gebracht hatte, begann sie zu laufen.
     
    Inzwischen hatten sich die Gäste auf der Terrasse versammelt, um das Feuerwerk zu sehen. Ein Diener reichte Apolonia ihren Mantel, als sie nach draußen wollte, und sie ließ die Pistole unauffällig in die Tasche gleiten. Sie musste unbedingt mit Nevera sprechen. Ob sie wusste, dass Morbus dabei war, den Verstand zu verlieren?
    Verstört drängte sich Apolonia durch die Menge und umschiffte Diener mit Häppchen und Champagner. Erinnerungen an ihren Vater durchzuckten sie. Am Abend vor dem Brand hatte sie mit ihm gegessen und normal gesprochen, am nächsten Morgen, läppische zehn Stunden später, war er verrückt gewesen. Sie hatte ihn in den Minuten verloren, in denen sie friedlich in ihrem Bett geschlafen hatte. Was, wenn Morbus wie er… Was, wenn der TBK dahintersteckte? Vielleicht hatten sie nicht nur den Brand gelegt, sondern auch noch mit Mottengaben nachgeholfen, um den Geist ihres Vaters für immer zu zerrütten. Und wenn sie dasselbe mit Morbus gemacht hatten?
    Apolonia fühlte sich trotz der winterlichen Kälte fiebrig. Wo war Nevera? Rings um sie begannen die Leute, die letzten Sekunden vor dem neuen Jahr zu zählen.
    Zehn!
    Neun!
    Acht!
    »Nevera!«, rief Apolonia, als sie ihre Tante und ihren Onkel von Bekannten umringt entdeckte. Sie drängte sich zu ihnen vor.
    Vier!

    Drei!
    Zwei!
    Eins!
    Die Raketen zischten los und plötzlich war der Himmel in gleißendes Licht getaucht. Donner erscholl und die Menschen jubelten. Im Gewitter der Feuerwerke erspähte Nevera Apolonia endlich, zog sie zu sich heran und gab ihr zwei Wangenküsse. »Alles Gute im neuen Jahr!«
    »Danke, dir auch …«
    »Alles Gute«, sagte Elias Spiegelgold und küsste Apolonia links und rechts.
    »Wo ist Jonathan?«, fragte Nevera und sah sich nach allen Seiten um.
    »Ich muss mit Ihnen sprechen …«, begann Apolonia, doch schon hatte Nevera sich umgedreht und tauschte Glückwünsche mit ihren Freunden aus. Unruhig wandte Apolonia sich zum Feuerwerk. Funken rieselten aus der Dunkelheit und beleuchteten das Anwesen wie silberne Tränen, die in ein Meer aus Tinte fallen. Flüchtig umzeichnete die zitternde Helligkeit die Bäume und ließ sie wieder verschwinden. Und da - da glaubte Apolonia eine Gestalt zu sehen. Sie stand am Rand des Wäldchens und blickte zum Fest herüber. Im nächsten Moment war sie wieder fort.
    Apolonia machte die Augen schmal. Konnte es sein? Mit stockenden Schritten ging sie an den Rand der Terrasse. Eine Weile beobachtete sie den Waldrand, doch es ließ sich nichts Ungewöhnliches feststellen. Dann gab sie sich einen Ruck und fasste Mut. Die fröhliche Menge blieb hinter ihr zurück, als sie die steinernen Treppen zum Garten hinabstieg. Der Wald zuckte im bunten Lichterglanz. Es war ganz offensichtlich. Und wenn schon nicht Apolonias Verstand ihr sagte, dass die Motten des Treuen Bunds hier waren und etwas mit Morbus angestellt hatten, so sagte es ihr ihre Intuition.

    Während sie durch die dünne Schneedecke auf die Bäume zuging, zog sie unauffällig die Pistole aus der Manteltasche. Nur für den Fall, dass ihre Mottengaben nicht ausreichten.
    Im Wald war es stockfinster. Für Sekunden sah Apolonia die Tannen und Fichten in gleißendes Feuerwerksgrün getaucht, dann wieder war alles schwarz. Vorsichtig ging sie weiter. Schneekrusten knirschten unter ihren feinen Schuhen. Wieder donnerte es, ein Regen aus Lichtern schwebte vom Himmel. Apolonia sah auf. Die Kronen der Bäume wiegten sich im leichten Nachtwind, als wollten sie sich zu ihr herabbeugen und sie verschlingen. Ein Zweig brach. Apolonia drehte sich um. Im rasch verblassenden Feuerwerk sah sie Vampa zwischen den Fichten hervortreten.
    Das Haar hing ihm wirrer

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