Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
er bestimmt an einem gemütlicheren Örtchen als…« Sie verstummte mitten im Satz. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie erkannte, dass Tigwid schwebte.
Tatsächlich - er hing schwerelos in der Luft! Und er stieg immer höher… Erschrocken riss er die Augen auf und bestaunte seinen fliegenden Körper. »Es - ja! Es funktioniert! Nimm meine Hände!«
Sie rannte auf ihn zu und sprang in die Höhe. Er zog sie hoch. Vor Überraschung schnappte sie nach Luft, als jegliches Gewicht von ihr abzufallen schien. Erst drehte sich ihr der Magen um, doch dann spürte sie ihren Körper fast gar nicht mehr. Tigwid zog sie näher, damit sie sich nicht in der Dunkelheit verloren.
»Nicht der Ort muss hergerufen werden, wir müssen uns an den Ort schicken!«, rief er aus. »Ich versteh es nicht ganz,
aber offenbar sind wir hier gerade weniger echt als die Wirklichkeit draußen.«
Apolonia stieß ein verblüfftes Lachen aus. »Ich werde gar nicht erst versuchen, darüber nachzudenken. Das habe ich noch nie zu jemandem gesagt.« Sie schwebten immer höher und sahen sich an.
»Du bist … unfassbar«, murmelte Tigwid grinsend.
»Du ebenfalls.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin total durchschaubar.«
»Und was jetzt?«, murmelte Apolonia. »Ich muss uns in die Bibliothek wünschen, ja?«
Er nickte langsam. Dann fasste er Mut und legte die Arme um sie. Sie spürte die Wärme seiner Hand an ihrer Taille, erschrak beinahe, aber sie wich nicht zurück. Seine Wange berührte ihre. »Die ganze Zeit… egal was du getan hast, ich dachte immer … dass ich dich kenne.« Sein Flüstern war kaum zu hören. »Egal was passiert ist, sollen sich doch alle die Köpfe einschlagen, soll doch die Stadt in ihrem eigenen Schlamm versinken! Ich hab mir nur gewünscht, einen Moment zu haben mit dir. Um …«
Sie hielt den Atem an. Lag es an der Schwerelosigkeit, dass ihr Herz so flatterte? »Um was?«
Die Finsternis schien um sie zu rotieren. Schatten traten immer deutlicher hervor, die sich rasch in flirrende Gegenstände verwandelten, während Tigwid über ihre Haare strich und ihre Lippen sich näherten.
Nocturna
V ampa kam zu sich, als er mit dem Kopf gegen Glas stieß. Mit einem brennenden Schmerz öffnete er die Augen und sah sich um.
Er saß in einem fahrenden Automobil. Neben ihm waren mehrere Gefangene, die wie er Handschellen trugen, bluteten, wimmerten oder bewusstlos waren. Der Polizist am Steuer fuhr eine Kurve und hielt vor einem imposanten Hauseingang. Vampa spähte hinaus und erkannte das Anwesen von Caer Therin wieder.
Die Autotür wurde geöffnet und der Polizist befahl ihnen auszusteigen. Vampa gehorchte und stellte sich mit gesenktem Kopf hinaus. Die Scheinwerfer weiterer Automobile näherten sich aus der Dunkelheit.
Blitzschnell legte Vampa die Arme um den Polizisten und würgte ihn mit den Handschellen. »Den Schlüssel«, forderte er.
Der erschrockene Blaurock wollte erst nach seiner Waffe greifen, doch Vampa stieß ihn nach vorne, sodass er in die Knie ging und die Pistole fallen ließ. Dann reichte er Vampa den Schlüssel zu seinen Handschellen und Vampa schloss auf. Sobald er frei war, stieß er die Autotür zweimal gegen den Kopf des Polizisten, und der Mann brach zusammen. Die anderen
Gefangenen drängten aus dem Wagen, um sich ebenfalls zu befreien, aber Vampa schenkte ihnen keine Beachtung. Er warf einen letzten Blick zur herankommenden Polizeieinheit, dann ging er rückwärts und verschwand in den Schatten des Hauses.
An der Nordseite des Anwesens fand Vampa eine Terrassentür, die nicht verschlossen war. Champagnergläser standen zwischen bunten Luftschlangen, doch die Gaslaternen brannten nur schwach und es herrschte tiefe Stille. Vampa durchquerte schlummernde Flure. Ihm war nicht klar, was er tun wollte - nur dass er in Apolonias Nähe bleiben würde. Er würde sie überzeugen, dass er nicht der war, für den sie ihn hielt.
Er stieg eine Treppe empor, als er von draußen aufgeregte Stimmen vernahm. Offenbar hatte man den überwältigten Polizisten gefunden. Dann entdeckte Vampa eine Bibliothek.
Langsam schob er die Türflügel weiter auf und ging an dem Kreis der Schreibtische vorbei. Er knipste eine Lampe an. In der Mitte der Tische und Regale verzierte ein Kachelmandala den Boden, und Vampa war eine Weile von dem Muster abgelenkt, ehe er sich den vielen Büchern zuwandte. Wenn Morbus ein Dichter war - dann musste es hier doch auch Blutbücher geben… Gerade wollte Vampa durch die Regalreihen
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