Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Ende des Ganges erreicht hatten. Ein dumpfes Vibrieren lief durch die Luft. Tigwids Knie wollten nachgeben; verblüfft stützte er sich gegen die Wand. Plötzlich fühlte er sich entsetzlich wackelig auf den Beinen.
»Was ist?«
Ihm gelang ein Kopfschütteln. Dann wies er geradeaus. »Komm, weiter. Schnell.«
Sie bogen um die Ecke, hasteten eine lange Treppe hinab, die in einen einsamen Kanalgang mündete. Am fernen Ende des Kanals leuchtete ein Licht; von hier aus war es kaum größer als der Kopf einer Stecknadel.
Wieder bebten die Mauern. Tigwid glaubte sich durch Wasser zu kämpfen, so schwer kam er voran. Apolonia schien gegen den Energieentzug resistenter zu sein. Als er seine Anstrengung nicht mehr vor ihr verbergen konnte, legte sie sich seinen Arm über die Schultern und stützte ihn. Schwerfällig schleppten sie sich weiter auf das Licht zu.
»Wieso … kannst du …?«
»Vielleicht verletzt das deinen Stolz«, sagte Apolonia mit einem verzweifelten Lächeln, »aber ich bin einfach viel stärker als du.«
Er grinste. Dann rutschte er auf dem nassen Boden aus, und Apolonia fing ihn auf, bevor er hinfiel. Schließlich stieß sie einen leisen Fluch aus, packte seine Arme und schwang sie sich über den Rücken.
»Was machst du da?«, protestierte Tigwid, als sie ihn hochhob. Apolonia antwortete nicht. Sie musste ihre Kräfte sparen, um ihn zu tragen.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Das Wasser im Kanal stieg immer höher, bis Apolonias Kleidersaum an ihren Knöcheln klebte. Ratten quiekten. Manche flohen in dieselbe Richtung wie sie, andere blieben kraftlos liegen und schwammen bald tot im brackigen Wasser. Apolonia und Tigwid hatten den Weg vielleicht zur Hälfte hinter sich gebracht, als ein markerschütterndes Donnern erscholl. Sie zuckten zusammen, und Apolonia drehte sich um: Dort wo sie hergekommen waren, stürzte das Gemäuer ein. Ein Stein löste sich unweit von ihnen aus der Decke und fiel platschend ins Wasser. Zwischen den Wänden traten Adern hervor, als würden die Steine aus dem Fundament gezogen und bluten. Tigwid dachte schmerzerfüllt an Collonta. Er hatte gewusst, dass es für ihn kein Entkommen gab, sobald er den Zauber wirkte. Und Zhang…
»Bald bricht hier alles ein«, murmelte er, um sich von seinen Gedanken abzulenken. »Wenn wir nicht rechtzeitig …«
Auf dem letzten Stück bis zum Licht spürte Apolonia, wie ihre Kraft zerrann. Jeder Schritt wurde zu einer Herausforderung. Tigwid, den sie mit ihren Mottengaben leichter getragen hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Keuchend zog sie sich an den Unebenheiten der Wände vorwärts. Und dann sah sie die Spiegelung der Lampe vor sich im Wasser - sie hatten das Licht erreicht!
Doch ihre Erleichterung zerfiel ebenso schnell, wie sie gekommen war. Denn hier war überhaupt keine Abzweigung, kein Weg, keine Öffnung - nur eine einsame Lampe in der Finsternis. Apolonia stieß wütend mit der Faust gegen die Steine, wobei Tigwid von ihrem Rücken glitt und im Wasser landete. Als sie ihm aufhelfen wollte, verhedderte sich ihr Schuh in ihrem Kleid. Der Stoff riss bis zum Knie und sie fiel unbeholfen über Tigwid. Eine Weile waren sie damit beschäftigt, sich voneinander zu befreien und aufzurichten. Dann gab Apolonia mit einem Ächzen auf und stützte die Stirn in die Hände. Sie fühlte sich so schwach … könnte sie doch hier sitzen bleiben, nur für einen Moment …
Die Wände grollten. Die Steine begannen zu wackeln und sich aus dem Mauerwerk zu lösen, als würde irgendwo ein gewaltiges Ungeheuer seine Lungen mit Luft füllen und alles mit einatmen. Tigwid und Apolonia klammerten sich aneinander. Es war eine Frage von Sekunden, bis der Kanal einstürzen würde.
Und da, plötzlich, flimmerte etwas in der Luft. Tigwid blinzelte. Tatsächlich - halb aus der Mauer ragend, materialisierte sich der Grüne Ring.
Verdutzt starrten sie die Tür an, die in den Steinen steckte. Dann flimmerte es links neben ihnen - und rechts - und über ihnen. Plötzlich war der Kanal von unzähligen Grünen Ringen erfüllt. Schwerfällig zog Tigwid sich auf die Beine.
»Das ist… Collonta!« Er schleppte sich auf die nächste
schwebende Tür zu, riss sie auf und trat mit Apolonia ins Dunkel. Sie drehten sich noch einmal zum Kanal um und sahen, wie die ersten Steine waagrecht aus den Mauern schossen und aneinander zerbarsten. Die anderen Grünen Ringe flirrten. Dann schlug die Tür zu und sie waren verschwunden.
»Tigwid?
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