Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
drang ihm in die Lungen. Mit ringenden Händen betastete er seinen Hals. Der Schnitt ging ihm quer über die Kehle und das Blut floss in Bächen.
Die Gestalten warteten. Doch das zufriedene Gemurmel erstarb, als Vampa nicht zu Boden fiel. Keuchend stand er da. Der Mann mit dem Messer verlor die Fassung. Er stürmte auf Vampa zu und rammte ihm die Klinge in die Brust. Vampa krümmte sich. Lichtfunken hüpften vor seinen Augen. Er fiel in einen Tunnel, rasend schnell …
»Das, das ist -« Der Mann wimmerte, als Vampa sich das Messer aus der Brust zog. Einen Augenblick stand er vor ihm und stützte sich auf den Arm des Mannes. Dann ließ er das Messer fallen.
»Nichts wie weg!«, schrie der Junge, den Vampa vorher abgeschüttelt hatte. Die Gestalten ergriffen die Flucht. Auch der Mann suchte das Weite, ohne sein Messer aufzuheben.
Schwerfällig schleppte Vampa sich durch den Dreck und kroch durch das Loch im Zaun. In der Ferne schwamm das Licht einer Straßenlaterne in der Nacht.
Er schlich an den Hauswänden vorbei. Kein Geräusch erreichte seine Ohren. Die Stadt schwieg allein für ihn.
Wärme durchwogte seinen Körper. Das Blut klebte an ihm wie ein Anzug aus Wasser, heißem, mildem Badewasser. Tot … Er war tot. Vampa lächelte. Ihm ging der Mund auf und die roten Zähne blühten zwischen seinen Lippen. Tot war er! Tausendmal würde er tot sein und niemals sterben. Lachend schleppte er sich durch die nächtlichen Straßen und
keine Menschenseele kreuzte seinen Weg. Als die Kirchtürme in der Ferne ein Uhr schlugen, blieb er unter dem Mondlicht stehen und breitete dem Himmel die Arme aus.
»Rettet mich«, sagte er in die Finsternis, die sich über ihm erstreckte. Wie kalte Augen starrten die Sterne ihn an. Ihr ewiges Licht spiegelte sich in seinen Tränen. Mit ausgestreckten Armen wartete er, bis das Blut über Brust und Kinn in seine Kehle zurückgeronnen war. Die Krusten schmolzen. Kein Tropfen blieb auf den Kleidern zurück. Das Herz in seiner Brust begann mit einem flammenden Stich wieder zu schlagen. Dann schloss sich der schwarze Schnitt an seinem Hals, er verschwand, als sei er nie da gewesen, verschwand wie ein ausradierter Bleistiftstrich.
»Rettet mich endlich …«
Mottentochter
I m Hause Spiegelgold waren fast alle Lichter erloschen. In der Küche hatte die Köchin die Glühbirne ausgeknipst, sobald sie mit dem Abwasch fertig geworden war, Trude schnarchte friedlich in ihrem Zimmer, Stricknadeln und Wolle noch in greifbarer Nähe neben der gelöschten Nachttischlampe, Frau Nevera Spiegelgold schlief seit drei Uhr nachmittags, denn sie hatte Migräne, und ihr Ehemann war aus seinem Büro getreten, als die Taschenuhr in seiner Weste Punkt elf Uhr gezeigt hatte. Die Fenster des Hauses blickten finster zum Park hinüber, der auf der anderen Straßenseite lag.
Nur ein Licht, eine kleine Kerze, glomm noch. Das Wachs tropfte auf Apolonias Nachtschränkchen, aber sie bemerkte es nicht. Die Decke um die Schultern gelegt wie ein Daunenzelt und die Beine gekreuzt, kauerte sie neben dem hüpfenden Lichtchen und las.
Tränen kullerten ihr über die Wangen, seit sie das Buch angefangen hatte. Als der Inspektor am Nachmittag gegangen war, hatte sie es vom Tisch genommen und aufgeschlagen.
Inspektor Bassar hatte es mitgebracht; es war eines der wenigen Bücher, die das Feuer überstanden hatten. Apolonia hatte noch einmal über die Seiten eines Buches streichen wollen,
das nie zuvor aufgeklappt worden war, hatte noch einmal die Druckerschwärze riechen wollen, den Geruch ihrer Kindheit - dann hatten ihre Augen die erste Zeile gestreift, das erste Wort, den ersten Buchstaben, und alle Wehmut war verblasst: Nur noch das Buch zählte.
Apolonia hatte ihren Vater im Salon sitzen gelassen, war lesend in ihr Zimmer gegangen und hatte Trude mit einem Wink fortgeschickt. Sie hatte sich in ihr Bett gesetzt und gelesen.
Nun war es fast vier Uhr morgens. Stille herrschte im ganzen Haus, auch draußen schwieg die Stadt. Nur das Umblättern der Seiten war zu hören und, hin und wieder, ein leises Seufzen, wenn Apolonia sich die Tränen von den Wimpern wischte.
Nie hatte sie so etwas gelesen - und durch ihre Hände waren wahrscheinlich mehr Bücher gegangen als durch die eines durchschnittlichen Bibliothekars. Was sie nun las, war unvergleichbar mit allem, was es sonst auf der Welt gab. Apolonia fühlte das Mädchen im Buch. Sie war lebendig. Sie war Apolonia .
Mit zitternden Fingern strich sie die letzte Seite um.
Weitere Kostenlose Bücher