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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Eine lange Zeit hatte sie mit Katzen und Hunden, die ihr auf der Straße zuliefen, und Eichhörnchen und Mardern aus den Parks Bilder ausgetauscht und geglaubt, jeder Mensch könne dasselbe. Erst als sie fünf war, beobachtete ihre Mutter sie beim Streicheln einer Krähe, die ihr aus den Bäumen zugeflogen war.
    »Ist das dein Freund?«, hatte ihre Mutter ihr zugeflüstert, den Blick auf den schönen schwarzen Vogel gerichtet.
    »Das ist Apfelschale. Sie isst am liebsten Apfelschalen.«
    »Dann hast du also auch eine Gabe«, murmelte Magdalena Spiegelgold, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Was du kannst, kann fast niemand sonst auf der Welt. Nicht einmal ich kann mit Tieren sprechen.«
    Apolonia hatte sich sehr besonders gefühlt. So besonders wie ihre Mutter.
    Denn Magdalena Spiegelgold war keine gewöhnliche Frau - das hatte Apolonia schon gewusst, bevor Trude ihr erklärte, wie die Dienstmädchen ihre Mutter hinter vorgehaltener Hand nannten. Wenn Apolonias Vater bei der Arbeit in der Buchhandlung war, besuchten sie merkwürdige Gäste. Sie rochen nach Kerzenwachs, Weihrauch und gelber Wüstenerde. Sobald sie kamen, musste Apolonia den Salon verlassen und wurde zu Trude geschickt. Doch manchmal, wenn das Kindermädchen beim Stricken eingedöst war, schlich Apolonia die wuchtige Wendeltreppe hinab und spähte durch das Schlüsselloch. Einmal sah sie ihre Mutter mit dem Rücken auf dem Boden liegen. Die Fremden saßen rings um sie herum, hatten die Augen wie sie geschlossen und murmelten leise Worte. Da
begann der Körper ihrer Mutter zu beben, ganz sacht nur, als ginge ein leichter Stromschlag durch sie hindurch. Ihr hellbraunes Haar löste sich aus dem eleganten Knoten und breitete sich auf dem Boden aus. Wie Schlangen ringelten sich die Strähnen um ihr regloses Gesicht und ihr Körper hob von der Erde ab. Einen Fingerbreit schwebte sie über dem dunklen Holzparkett, steif und reglos. Die Fremden murmelten unablässig ihre Worte. Apolonia wich erschrocken von der Tür weg. Sie rannte zur Treppe zurück, erklomm mit ihren kleinen Beinen die großen Stufen, bis sie wieder im Kinderzimmer angekommen war und die Tür leise hinter sich schloss.
    Ein anderes Mal hörte Apolonia ihre Eltern streiten, obwohl sie nie lauter sprachen als nötig. Apolonia wusste, worum es ging. Sie merkte es am Klang ihrer Stimmen, am merkwürdigen Verstummen mitten im Satz. Es ging um die Gäste, die wie Geister ins Haus glitten, sobald Alois Spiegelgold nicht da war. Apolonias Vater war nicht dumm. Er wusste über die Freunde seiner Frau Bescheid, und er wusste von den geheimnisvollen Spielen, die sie im Salon trieben, dem Flüstern und Murmeln und den heraufbeschworenen Mächten, die Magdalenas Haar in Schlangen verwandelten und ihren Körper schweben ließen. Aber er unternahm nichts dagegen, denn er liebte seine Frau, und all die seltsamen Dinge, die sich hinter ihren hellblauen Augen verbargen, waren ein Teil von ihr. Bloß von ihren Gästen wollte er nichts wissen.
    Hin und wieder hatte Apolonia das Gefühl, dass gar nicht die Fremden warteten, bis ihr Vater das Haus verließ - vielmehr flüchtete ihr Vater, bevor sie kamen. Dann schien es ihr, als besäßen in Wahrheit sie das Haus und nicht Alois Spiegelgold, und auch Magdalena gehörte ihnen mehr als ihrer Familie.
    Einmal fragte Apolonia ihre Mutter, was sie im Salon tat,
wenn ihre Gäste da waren und sie fortgeschickt wurde. Magdalena lächelte, sehr fern und verschleiert wirkte ihr Gesicht, und ihr Blick schien an einen Ort zu reichen, den niemand außer ihr sehen konnte.
    »Ich wandere. Es gibt viele Arten, um zu wandern, und viele Orte zu bereisen, die man nicht immer auf einer Landkarte findet. Nicht nur mit den Füßen kann man laufen, verstehst du?«
    Apolonia verstand nicht. Erst viel später begriff sie, dass ihre Mutter eine Motte war.
     
    »Fräulein Apolonia … Wachen Sie auf, Fräulein Apolonia. Es ist Morgen!«
    Apolonia kniff die Augen zu, als die Vorhänge aufgezogen wurden und helles Tageslicht in ihr Zimmer flutete. Die Herbstsonne malte einen goldenen Rand um Trudes dicken, kleinen Körper, als das Kindermädchen aufs Bett zuwackelte und vorsichtig die Decke aufschlug. Apolonia zog die Knie an den Körper.
    »Ich bin müde!«, knurrte sie in ihr Kissen.
    »Es ist aber schon zwölf Uhr, und die gnädige Frau Spiegelgold besteht darauf, dass Sie noch zur selben Stunde in ihrem Salon erscheinen, wo doch

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