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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Ihre Augen schmerzten und die Müdigkeit lähmte jede Zelle ihres Körpers, doch sie konnte nicht aufhören. Es war unmöglich, sich loszureißen. Wäre ein Räuber in ihr Zimmer gestürmt, hätte Apolonia weitergelesen.
    Ihre Lippen formten die letzten Worte mit. Dann war das Buch zu Ende.
    Apolonia musste lächeln. Was für ein Buch! Ganz schummrig war ihr vor Glück, vor Bauchkribbeln. Dabei konnte sie gar nicht darüber nachdenken, was ihr an der Geschichte gefallen hatte - über die Geschichte selbst konnte sie nicht nachdenken. Das Buch war in ihrem Inneren aufgebläht wie ein riesiger, ungreifbarer Gefühlsballon. Sie blätterte noch
einmal an den Anfang und fuhr mit den Fingern über den Titel. Das Mädchen Johanna. Von Jonathan Morbus.
    Apolonia biss sich auf die Lippe. Das Buch behutsam in die Hände geschlossen, verweilte sie mehrere Augenblicke und fühlte sich so glücklich wie lange nicht mehr.
    Wie konnte es so etwas geben? Das hier war mehr als nur ein Buch. Viel mehr als eine Geschichte. Es war wie … wie ein echter Mensch, dachte sie, aber auch das traf es nicht richtig.
    Plötzlich klopfte es an ihrem Fenster. Apolonia drehte sich um. Ein schmaler, geschmeidiger Schatten war hinter der Glasscheibe erschienen.
    Sie schob das Buch unter ihr Kopfkissen und nahm die Kerze vom Nachtschränkchen. Das Licht vorgestreckt, ging sie zum Fenster. Krallen klackerten gegen das Glas. Apolonia leuchtete hinaus und ein dunkles Augenpaar glühte auf. Es war ein Marder.
    Rasch öffnete sie das Fenster und der Marder flitzte ins Zimmer. Er sprang aufs Bett, über Decke und Kissen, schlug einen Haken und landete auf dem Schreibtisch. Ein Bild drängte sich in Apolonias Bewusstsein, ein Bild von laut rufenden Menschen.
    »Hallo, Knebel.« Weil der Marder das natürlich nicht verstand, konzentrierte sie sich auf das Bild eines Mädchens, das die Kleider einer Königin trug und auf einem riesigen Globus stand. Der Marder quiekte zur Begrüßung, als er das Bild empfing.
    Zugegeben, bei der Wahl ihres Namens war Apolonia nicht bescheiden gewesen. Bei den Tieren war sie als Königin bekannt, die auf der Welt tanzte. Knebel hingegen hatte sich, als sie ihn das erste Mal traf, mit dem Bild einer lärmenden Menge vorgestellt. Er hasste nämlich den Lärm der Menschen und wollte ihnen allen am liebsten das Maul stopfen, vor allem den neuen, riesigen Glanzkäfern, den Automobilen. Also
hatte Apolonia ihm den Namen Knebel gegeben. Doch im Grunde genommen gab es keine Klangnamen bei den Tieren, sie stellten sich in Bildern vor.
    Du kommst spät , sagte Apolonia. Dabei dachte sie an den finsteren Himmel draußen, die nächtliche Stille (die sie noch mit einem sanften Grillenzirpen unterlegte) und dann den Schatten an der Fensterscheibe. Demonstrativ gähnte sie und ging zurück ins Bett. Knebel blickte ihr mit großen Augen nach und hüpfte schließlich zu ihr aufs Kissen, als sie sich die Decke bis zum Kinn hochzog. Apolonia war fast zu müde, um sich noch mit Knebel zu unterhalten. Hartnäckig sandte er ihr seine Bilder, aber immer wieder zerfielen sie in ihrer Vorstellung, bevor sie ihren Sinn begreifen konnte.
    Ein Bild von der Nacht. Der Mondschein ist besonders hell - er wird von den Augen eines Marders wahrgenommen. Überall in den Straßen huschen Marder umher. Manche sind feindlich, andere freundlich gesinnt. Es ist ein Revierkampf im Gang. Knebel will sich drücken, er hat Angst, aber die Anführerin lässt ihn nicht aus den Augen. Er ist eines der jungen Männchen in seinem Clan und muss sich beweisen … Es ist spät, als er schließlich doch verschwinden kann. Schleunigst stiehlt er sich davon, lässt die Kämpfenden hinter sich zurück und klettert zu Apolonias Fenster empor …
    Du Feigling , dachte Apolonia lächelnd. Ein rennender Marder, der seinen Clan hinter sich zurücklässt.
    Knebel quiekte empört, dann kraulte Apolonia ihm den Nacken. Dicht an sie gekuschelt, rollte der Marder sich ein.
    Kann nix dafür , murmelte Knebel und schickte ihr ein blasses Bild: Die Königin, die auf der Welt tanzt, und lärmende Leute. Auf der anderen Seite ein buschiger, fauchender Marder. Wofür soll man sich da entscheiden?
    »Ja, ja«, murmelte Apolonia. Knebel schleckte ihr noch einmal über die Stirn, dann war er eingeschlummert; auch
Apolonia fiel bald in einen tiefen Schlaf, in den sie die Geschichte aus dem Buch begleitete …
     
    Als Apolonia das erste Mal mit einem Tier gesprochen hatte, war sie so klein gewesen,

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