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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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könnten wir gar nicht finden. Und wenn wir Glück haben«, setzte sie leise hinzu, »verliert ein ganz besonderer Polizeibeamter sein bisschen Verstand, wenn er es liest.«
    »Nein«, sagte Tigwid entschieden.
    Apolonia senkte die Arme. »Was soll das heißen? Wieso nicht?«
    »In dem Buch steht meine Vergangenheit! Und die war nicht immer ganz ordnungsgemäß, wenn du verstehst. Ich kann nicht zur Polizei, unmöglich.«
    »Tigwid, hier geht es nicht um ein paar gestohlene Äpfel. Wir können die Dichter zu Fall bringen.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Also schön. Wenn dir wegen des Buchs Ärger beschert wird, dann verspreche ich, dass ich dir den besten Anwalt bezahle, den ich finde, und Geld spielt keine Rolle.«
    Tigwid fuhr sich durch die Haare. »Es sind mehr als nur
gestohlene Äpfel, Apolonia. Wenn die Polizei durch mich etwas von Mone Flamm erfährt, bin ich innerhalb der nächsten zwanzig Stunden von Kugeln durchsiebt. Mein Boss ist da nicht zimperlich.«
    Apolonia musterte ihn ungeduldig. Warum musste das einzige Buch, das sie hatten, ausgerechnet Tigwids Missetaten beinhalten! Aber schließlich war sie kaum in der Position, um ihm böse zu sein. Im Stillen fragte sie sich, ob sie ihm vergeben hätte, wäre sie an seiner Stelle gewesen und er hätte Eck Jargo verraten … wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sein Verhalten kaum nachvollziehen. Doch im Augenblick gab es Wichtigeres: ihr Elend zum Beispiel.
    Geschlagen ließ sie sich wieder auf das Sofa fallen. »Na fein, hast du also einen besseren Vorschlag?«
    »Also …«
    Sie zog die Knie an den Körper und schlang die Arme um ihre Beine, als sie plötzlich etwas unter sich fühlte. Sie drehte sich um und zog ein dünnes Buch zwischen den Sofakissen hervor. Es war ein kleines Notizbuch. Unlesbares Gekrakel füllte die Seiten, nur ein kleines Gedicht war fein säuberlich aufgeschrieben.
    »Was steht da?«, fragte Tigwid interessiert, dem der Themenwechsel gerade recht kam. Apolonia las vor:
    »Auf Erden wandeln alle blind,
geeint durchs Wort - welch loser Bund!
Verschweigt es doch, wer Menschen sind…
Hätte ich nur ein Licht im Mund!«
    Sie las es noch einmal durch. »Das klingt nach den Dichtern«, murmelte sie. »Und eigentlich… ist es gar nicht so verfehlt. Wenn man darüber hinwegsieht, was die Dichter im Namen dieser Idee alles tun, könnte man glatt zustimmen.«

    Tigwid blickte nachdenklich aus dem Fenster. Eine Weile schwieg er. »Glaubst du daran?«
    »Woran?«
    »Na, an das, was da steht. Glaubst du, dass wir blind sind? Dass unsere Worte nie ausreichen, um den anderen wirklich zu kennen?«
    Apolonia sah ihn verwundert an. »Du hast das Gedicht ja verstanden.«
    »Nur weil ich nicht lesen kann, bin ich nicht dumm.«
    »Ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte Apolonia. »Eigentlich bin ich überrascht, dass du… na ja. Ich glaube, man kann das Licht manchmal finden. Vielleicht versteht man manche Menschen und ihre Gefühle sogar ganz ohne Worte.«
    »Das glaube ich auch«, murmelte Tigwid und sah sie an. Vernehmliche Stille trat ein.
    »Ach, herrje, diese Kälte, ich werde ja ganz rot!« Sie klatschte in die Hände und rieb sich die Finger. »Meine Nase ist bestimmt ganz rot, was? Und meine Wangen glühen, ich merke schon, diese Kälte…«
    »Soll ich das Fenster … ach, ist ja keine Scheibe drin.« Tigwid, der bereits aufgesprungen war, wiegte sich angesichts des glaslosen Fensters unentschlossen von den Zehen auf die Fersen. »Tja, ähm… Vielleicht ist Vampa ein ausreichender Beweis für die Polizei.«
    »Ein Junge mit Gedächtnisschwund beweist gar nichts. Und mit seiner Unsterblichkeit kommen wir höchstens in einen Zirkus.«
    »Hm.« Tigwid kratzte sich den Hinterkopf. Vampa sah ihn an und zerzauste sich unauffällig die Haare.
    Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen. Apolonia ließ das Notizbuch sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
    »Ich habe Hunger«, flüsterte sie erstickt. In Wirklichkeit
war es viel mehr als das. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie hilflos. Und das Gefühl der Ohnmacht war durch das Verrücktwerden ihres Vaters bloß stärker geworden. Niemand glaubte ihr. Sie war ganz auf sich selbst angewiesen. Und jetzt war ihr kalt, sie war müde und hatte seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen.
    »Hier! Apolonia, ich habe Brot.«
    Sie hob den Kopf und sah zu, wie Tigwid sich ein halbes Brot aus der Hose fischte.
    »Hast du dir das aus dem Hintern gezogen?«
    Ein schalkhaftes Blitzen

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