Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
runzelte die Stirn. »Jonathan Morbus, natürlich.«
Jede Zelle seines Körpers begann zu kribbeln. »Sie kennen ihn?«
»Ja, er mietet eine Lagerhalle, drüben im Ostviertel, beim alten Bahnhof. Erst hat die Halle einer Druckerei gehört, dann habe ich sie gekauft, um sie an verschiedene Geschäftsmänner mit Großwaren zu verpachten. Und seit ein paar Jahren mietet Morbus die Halle. Ich erinnere mich so gut an ihn, weil er nie Waren in die Halle brachte - er ist weder ein Hehler noch ein Schmuggler oder sonst was. Ich glaube, er ist ein Romanautor. Seltsam fand ich ihn schon. Aber ich dachte, er ist eben ein Schreiber. Die sind ja alle ein bisschen exzentrisch.«
»Glauben Sie, dass er da ist?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Aber… meine Informanten haben mir berichtet, dass er nur selten hingeht.«
»Gut. Danke. Vielen Dank!« Tigwid lief aus dem Zimmer, stieß im Flur auf Vampa und zog ihn auf die Tür zu.
»Was hat sie -«
»Wir müssen zum alten Bahnhof, in eine Lagerhalle!« Eilig schob Tigwid die Schlossriegel und Ketten auf, öffnete die Tür und sprang in zwei Sätzen die Treppe hinab, die zur Straße hinunterführte. Vampa zog die Tür hinter sich zu und lief ihm nach.
Zusammen
D otti saß eine Weile auf dem Sofa, ohne sich zu bewegen, und drückte sich das Taschentuch unter die Nasenspitze. Ein eigenartiger Gedanke hatte von ihr Besitz ergriffen. Eine Idee.
Vielleicht war es falsch. Vielleicht würde es ihn nicht aufhalten, vielleicht würde er wiederkommen und sich an ihr rächen.
Aber zur Hölle mit den Ängsten - sie hätte das, was sie jetzt tun würde, schon vor Jahren tun sollen. Und sie hatte nichts mehr zu verlieren.
Sie stand auf und ging in den Flur. An der Wand hing das modernste Gerät, das man in ihrem mit antiken Schätzen vollgestopften Haus finden konnte: ein Telefon. Sie nahm den Hörer ab. Das Knistern der Leitung flüsterte ihr ins Ohr. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer der Polizei …
»Also, fassen wir noch einmal zusammen«, sagte der Polizeibeamte gewichtig und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sie behaupten, dass es Menschen mit übernatürlichen Kräften gibt, sogenannte Motten. Diese Motten stehlen Erinnerungen und schreiben sie in Bücher, die so wahr und schön sind, dass man seinen Verstand verliert, wenn man sie liest.
Und Ihnen wollen die Motten ebenfalls Erinnerungen entwenden, speziell die Erinnerung an Ihre verstorbene Mutter.«
»So ist es«, bestätigte Apolonia. »Und in diesem Augenblick befinden sie sich in einer Lagerhalle beim alten Bahnhof und werden nur von Krähen und Hunden bewacht.«
Die Augenbrauen des Beamten waren irgendwo in die Höhe seines spärlichen Haaransatzes gewandert. »Ah. Krähen und Hunde.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und zeigte Apolonia ein kurzes, unfreundliches Grinsen. »Fräulein Spiegelgold, Sie hätten nicht zur Polizei gehen sollen, wie mir scheint, sondern zu einem Arzt. Hier verschwenden Sie nicht nur Ihre, sondern auch meine kostbare Zeit. Die Polizei hat schon genug Verbrechen zu bekämpfen, die keinem Hirngespinst entspring-«
Apolonia schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wissen Sie nicht, wer ich bin! Ich wurde entführt, die Polizei ist verpflichtet, mir zu helfen!«
Der Beamte legte die Hände auf die Armlehnen und betrachtete sie mit verächtlicher Genugtuung. »Solange Sie Ihre Geschichte nicht mit Beweisen untermauern können, sehe ich mich nur meinem Verstand verpflichtet.«
»Beweise?«, schrie Apolonia. »Sehen Sie mich an! Glauben Sie, ich komme gerade vom Gottesdienst?« Sie schob den Ärmel zurück und zeigte ihm den blutigen Schnitt an der Innenseite ihres Oberarms. »Denken Sie, das habe ich selbst gemacht?«
Der Beamte lehnte sich vor, um ein paar säuberlich gespitzte Bleistifte nebeneinander zu ordnen. »Ich denke so einiges, Fräulein Spiegelgold, was aber nichts an den Fakten ändern wird. Die Polizei schreitet ein, wenn es handfeste Beweise für einen Gesetzesbruch gibt.«
»Ich habe eine Zeugenaussage gemacht, die genau das bestätigt!
« Apolonia konnte es nicht fassen. Die Gerechtigkeit war drauf und dran, an einer kleinlichen Büromaus zu scheitern!
»Ohne Ihnen nahetreten zu wollen: Ich erachte Ihre Aussage nicht als glaubwürdig. Zauberer und verhexte Bücher, in denen Erinnerungen gefangen sind oder Menschen oder was sonst … Ich bitte Sie.« Der Beamte erhob sich, ging durchs Zimmer und öffnete die Tür. »Ich wünsche Ihnen einen guten
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