Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
an sich, das ihr eine Gänsehaut bereitete … seine Augen wirkten wie eingesetzte Glasscherben. »Was machst du hier?«, fragte sie Tigwid misstrauisch. Der Verdacht, er wollte sich an ihr rächen, brodelte unheilvoll in ihr hoch. Unbemerkt tastete sie nach ihrem Nagelbrett… Zugegeben war das keine großartige Verteidigung
gegen zwei Gegner, die größer als sie und wahrscheinlich auch kampferprobter waren, aber besser als nichts.
Tigwid starrte sie an, als sei ihm gerade furchtbar übel geworden. »Ich wollte dich retten«, sagte er mit piepsiger Stimme.
»Oh … Wieso?«
Tigwid räusperte sich schwer. »Tja. Sieht so aus, als ging’s dir ganz gut.«
»Wie hast du mich gefunden?« Apolonia merkte, wie sich der fremde Junge hinter Tigwid schlich, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Wir sind - sozusagen - eigentlich zufällig vorbeigekommen.«
Der widerwillig sorgenvolle, enttäuschte Ausdruck in Tigwids Gesicht strafte seine abweisende Haltung Lügen. Apolonia fühlte sich um gut dreihundert Pfund schwerer, als sie ihm in die karamellbraunen Augen sah und begriff, dass er trotz ihres Verrats nach ihr gesucht hatte. Schuldgefühle nagten an ihr. Wie grässlich!
»Tigwid, es tut mir … leid. Das mit Eck Jargo .« Ihre Stimme war plötzlich heiser, die Worte kosteten sie Mühe. »Nun. Gott sei Dank konntest du fliehen.«
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und warf einen Blick aus dem Fenster. »Tut mir auch leid, dass ich dich mit den Dichtern allein gelassen habe.«
»Wirklich?«, fragte Apolonia langsam.
»Nein. Eigentlich ist alles deine Schuld.« Er lächelte zögernd. »Wo du mich so dran erinnerst, weißt du, könnte ich dir glatt eine runterhauen.«
Apolonia lächelte. Da - WUMM - traf sie eine Ohrfeige, und ihr Kopf flog so heftig zur Seite, dass ihr die Luft wegblieb.
»VAMPA!« Tigwid fuhr verzweifelt herum, ohrfeigte
Vampa und packte Apolonia an den Armen. »Alles in Ordnung?«
Sie ließ sich blinzend wieder von ihm aufrichten und berührte ihre brennende Wange. Die Haut fühlte sich an wie gespanntes Papier.
Tigwid drehte sich zu Vampa um. »Sag mal, hast du sie noch alle?! Wofür war das denn?«
»Du wolltest ihr doch eine runterhauen«, sagte Vampa leise.
Tigwid starrte ihn fassungslos an. »Sie ist ein Mädchen! Du bist ein verdammter Boxer! Du kannst sie doch nicht - ich hab das doch nicht ernst gemeint!«
»Wieso hast du es dann gesagt?«
»Was geht dich das an? Warum hab ich eigentlich das komische Gefühl, dass du mich die ganze Zeit nachmachst?« Einen Moment lang wartete Tigwid auf eine Antwort, aber als keine kam, wandte er sich wieder Apolonia zu. »Geht es?«
Apolonia wehrte seine Hilfe ab und strich sich die Haare zurück. »Stell dich nicht an, Tigwid, es ist nur eine Ohrfeige. Ja. Und was die Tatsache betrifft, dass ich ein Mädchen bin, so ist meine Backe doch nicht verletzlicher als die von einem Jungen, oder?«
Tigwid biss sich lächelnd auf die Unterlippe. »Falls du dich trotzdem bei ihm revanchieren willst, lass deiner Wut freien Lauf. Ehrlich, du brauchst nicht zimperlich mit ihm sein, hau rein! Er ist nämlich unsterblich.«
Die drei hatten sich auf dem Ledersofa niedergelassen, das in einer Ecke des Büros stand und vom Schnee fast unberührt geblieben war. Apolonia erzählte, was sie über die Dichter erfahren hatte, wie ihr ihre Befreiung geglückt war und wie halsstarrig die Polizei sich verhalten hatte. Dann berichtete Tigwid, wie Vampa ihm bei seiner Flucht geholfen und von
seinem Blutbuch erzählt hatte. Apolonia hörte ihm aufmerksam und ohne Mitleid zu, was Tigwid sehr tröstend fand. Genau ihre Sachlichkeit brauchte er jetzt, um nicht bekümmert zu werden. Oder verrückt vor Zorn.
Nur Vampa machte während der ganzen Zeit den Mund nicht auf, sondern starrte nur Apolonia und manchmal Tigwid an. Apolonia hatte ihm die Ohrfeige verziehen, oder besser gesagt, sie erachtete den Zwischenfall angesichts ihrer eigentlichen Sorgen nicht als wichtig genug, um wütend zu sein.
»Du kannst also nicht sterben«, stellte sie bloß fest, und Vampa nickte langsam. »Die Dichter vermögen also nicht nur Erinnerungen in ihre Bücher zu schließen, sondern ganze Menschen. Ein ganzes Leben …«
Als sie zu Ende erzählt hatten, stand Apolonia auf, strich sich ihren Mantel glatt und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Also, meine Herren: Folgt mir. Wir holen jetzt das Blutbuch von Tigwid und gehen zur Polizei. Einen besseren Beweis als das Buch
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