Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
ständigen Fluchten und Hetzjagden! Ihre Füße schlitterten über den Boden, dann hatten sie die Treppe erreicht. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürzte sie hinter Vampa her und fühlte Tigwids Keuchen im Nacken. Dann waren sie bei der Tür angekommen und Vampa stieß sie auf.
Ein Polizeiwagen parkte auf der Straße und der verdatterte Blaurock am Steuer ließ bei ihrem Anblick sein belegtes Brötchen fallen. Die drei bogen in eine enge Seitengasse ab, in der sich leere Kisten stapelten und der Schnee über rauchenden Kanalschächten schmolz. Rufe hallten in der Ferne wider. Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Sie bogen wieder ab und
wieder, bis sich die Gassen öffneten und alte Bahngleise vor ihnen auftauchten. Zwischen abgestellten Zugwaggons und verrosteten Tonnen blieben sie stehen und rangen keuchend nach Atem.
»Also - hat der Kerl Spaß daran, Leute zu schlagen?!«, fauchte Apolonia, sobald sie wieder Luft bekam, und wies wütend auf Vampa.
»Er ist Boxer«, erklärte Tigwid.
Apolonia wandte sich an den unheimlichen Jungen, der sie wortlos beobachtete. »Wieso war das eben nötig? Womöglich ist dir das noch nicht in den Sinn gekommen, aber mit Polizisten kann man auch SPRECHEN! Nicht nur kloppen, verstehst du das? Ich hätte uns da schon rausreden können, aber du wirst ja lieber kriminell!«
Tigwid lächelte. »Reden nützt bei Vampa nichts mehr.«
Apolonia maß erst Tigwid, dann Vampa mit einem verächtlichen Blick.
»Vampa war Boxer in Eck Jargo «, fuhr Tigwid fort. »Da pufft man sich nicht mit Wattebäuschen. Gut möglich, dass die Polizei Vampa Totschlag oder so was anhängen will.«
»Versuch nicht, mich zu beeindrucken«, erwiderte Apolonia trocken.
»Das ist die Wahrheit, ob du’s beeindruckend findest oder nicht.«
»Die Wahrheit ist, dass der Kerl eine verdammte Bedrohung auf zwei Beinen ist!«
»Mach dich nicht über ihn lustig, er hat auch dir gerade den Kragen gerettet. Uns blieb keine andere Wahl als wegzurennen.«
»Natürlich. Für dich ist Flüchten ja die Problembewältigung Nummer eins.«
»Wa- also, wenn du schon von Problemen sprechen willst, verglichen mit dir, bin ich ein verdammter Heiliger und -«
Plötzlich meldete sich Vampa zu Wort: »Woher wussten die Polizisten, dass ich in der Lagerhalle war?«
Überrascht blickten Apolonia und Tigwid ihn an.
»Vielleicht waren es die Dichter«, überlegte Tigwid nach einem Moment.
»Unmöglich.« Apolonia massierte ihre Ohren, die vom Rennen in der kalten Luft wehtaten. »Die Polizei hat schließlich nach Vampa gesucht. Woher sollten die Dichter wissen, dass er dort sein würde?«
»Vielleicht haben sie es rausgefunden«, meinte Vampa leise. »Mit Mottengaben.«
Apolonia schüttelte energisch den Kopf, obwohl die Vorstellung sie schaudern ließ. »Unsinn. Bevor wir nach einer übersinnlichen Erklärung suchen, sollten wir uns lieber irdischen Tatsachen zuwenden: Wer hätte wissen können, wo ihr …«
Apolonia sah Tigwid an und erstarrte. Hinter einem alten Waggon waren die drei Polizisten aufgetaucht. Lautlos hoben sie ihre Schlagstöcke.
Apolonia riss den Mund auf. Innerhalb eines Wimpernschlags begriff Tigwid und fuhr herum - aber es war zu spät. Der erste Schlag traf ihn gegen die Schläfe. Er fiel beinahe auf die Knie, wehrte den nächsten Schlag jedoch mit der Hand ab, versuchte, sich aufzurappeln, und stolperte los.
Apolonia fühlte sich wie aus ihrem Körper gerissen. Ihre Beine begannen zu rennen, aber sie kontrollierte es nicht. Vor ihr rannte Vampa, sprang über Bahngleise und huschte zwischen Kisten und verrosteten Tonnen hindurch. Irgendwo erklang ein ohrenbetäubendes Brausen. Apolonia stieß einen Schrei aus, als direkt vor ihr ein Zug vorbeirauschte und sie um Haaresbreite überrollte. Vampa war schon auf der anderen Seite. Waggons sausten wie ein schwarzes, röchelndes und dampfendes Monstrum an ihr vorüber, dann war der
Zug davongefahren und vor Apolonias Augen tanzten flimmernde Funken. Der Schock drückte ihr das Herz gegen den Hals; nur allmählich bekam sie wieder Luft. Hinter ihr erklangen Schritte, dann dumpfe Schläge, ein Aufschrei.
Tigwid! Sie fuhr herum und entdeckte ihn auf dem Boden, die uniformierten Männer über sich.
Sie wollte ihm helfen oder irgendetwas tun, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie gelähmt sah sie zu, wie Tigwid zusammenbrach. Einer der Polizisten rannte jetzt auf sie zu.
»Apolonia!« Vampa war zu ihr zurückgelaufen und zerrte sie am Ärmel.
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