Noelles Demut
fort. Noelle schmiegte sich an seine Brust. Sie mochte seine kräftigen Arme und die breiten Brustmuskeln. Er strahlte so viel Stärke aus und doch hielt er sie ganz sanft im Arm. Am Wagen stellte er sie auf die Füße und öffnete ihr die Tür.
„Ich bin gleich wieder bei dir“, sagte er und ließ sie stehen. Sein Gang hatte etwas Militärisches an sich, als er zum Haus zurückging. Noelle schmunzelte und setzte sich ins Auto.
Simon hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Dieses verfluchte Haus kam ihm wie ein Tatort aus Criminal Minds vor. Und Noelles Verhalten jagte ihm eine Heidenangst ein. Dieser Wechsel zwischen Apathie, Wut, Trauer und überschwänglicher Freude war nicht normal.
In diesem Moment wurde ihm klar, dass sie professionelle Hilfe brauchte. Er würde das nicht allein schaffen. Dieses Schwein von einem Mann hatte mehr in ihr zerstört, als Simon geahnt hatte. Sie begann bereits, sich eigene Welten zu schaffen und ungeliebte Dinge auszublenden. Wenn sie jetzt keine Hilfe bekam, würde sie sich selbst verlieren. Das würde er nicht zulassen. Gleich morgen würde er sich nach Therapeuten umsehen, die mit solchen Erlebnissen Erfahrung hatten. Vielleicht konnte ihm Dr. Forrester einen Tipp geben.
Zurück im Haus atmete er tief durch. Ihm war aufgefallen, wie entsetzt Noelle auf das Chaos in der Küche reagiert hatte. Wollte sie das Haus verkaufen, konnte es schlecht in diesem Zustand verbleiben. Eine Reinigungsfirma müsste beauftragt werden, doch auch von denen konnte man schwerlich verlangen, altes Blut wegzuwischen. Außerdem wäre das Noelle im höchsten Maße peinlich. Also wischte er den Boden sauber und warf das blutige Messer in den Müll. Dass ihr nicht bewusst war, dass sie dieses Messer auf keinen Fall weiterhin benutzen konnte, war ein weiteres Indiz ihrer Verwirrung.
Simon schnappte sich den Messerblock, der auf dem Küchentresen stand. Dann warf er die Tür ins Schloss, ohne sich noch einmal umzublicken, und rannte zu Noelle. Die saß im Auto, hatte den Kopf zwischen den Beinen und atmete keuchend ein und aus. Simon riss die Tür auf. Sie drehte leicht den Kopf und grinste.
„Nur eine leichte Panikattacke. Keine Sorge, ist gleich vorbei.“
„Keine Sorge! Du machst wohl Witze? Noelle, du musst dir helfen lassen“, brach die ganze Anspannung der letzten Stunde aus ihm heraus.
Sie richtete sich auf und holte ein, zweimal tief Luft. „Das weiß ich. Morgen früh habe ich einen Termin beim Psychiater. Ich bin bekloppt.“
Simon saß in der Hocke vor seinem Wagen und schüttelte den Kopf. „Mann, Nell. Du machst mich echt fertig.“
Kurz vor New York schlief Noelle ein. Während der vierstündigen Heimfahrt hatten sie nicht viel miteinander gesprochen. Noelles Arme hielten krampfhaft die Ledermappe umschlungen. Simon schielte immer wieder zu ihr rüber. Diese Mappe war alles, was von ihrem bisherigen Leben übrig war. Ob sie je darüber hinwegkam? Hatten sie überhaupt eine Chance, glücklich zu werden?
Der Kies knirschte unter den Rädern, als Simon den Schotterweg zu seinem Haus entlangfuhr. Noelle knurrte leise, als er den Wagen anhielt und den Motor ausschaltete. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und flüsterte: „Sind wir da?“
„Ja.“
Träge öffnete sie die Augen und lächelte ihn an. Simon ging das Herz auf. Doch einen Augenblick später stand Verwirrung auf ihrem Gesicht.
„Wo sind wir?“
„Bei mir zu Hause.“
Noelle presste sich tiefer in den Sitz. „Ich … Bring mich zu Lydia.“
„Nell, bitte. Ich habe ein Gästezimmer. Ich werde dich nicht allein lassen.“
„Wieso allein? Lydia ist doch da?“
„Ist sie nicht. Sie ist bei Paul. Ich habe ihn heute Mittag, bevor wir losgefahren sind, im Laden getroffen.“
Noelle schluckte krampfhaft. Die Angst in ihren Augen schnitt ihm ins Herz. Er hatte ihr nie Anlass gegeben, ihn zu fürchten. Ihm war klar, dass sie nicht in der Lage war, vorbehaltlos zu vertrauen, aber es tat verdammt weh.
„Komm, ich zeige dir das Gästezimmer. Der Tag war anstrengend. Du solltest dich ausruhen.“
Immerhin stieg sie ohne weiteren Protest aus.
Der Anblick des Hauses schien sie abzulenken. Ihre Augen weiteten sich staunend, und sie wäre fast die Stufen hochgefallen, weil sie nicht auf den Weg achtete, sondern die Glasfassade bestaunte.
„Wow! Hast du das Haus gebaut?“, fragte sie, als sie in der Eingangshalle standen.
„Mein Vater hat es kurz vor seinem Tod begonnen. Ein Jahr später habe ich es
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