Noelles Demut
Ausbeute. In der Tasche auf dem Rücksitz waren nur schnell zusammengepackte Klamotten. Papiere, Geld oder persönliche Dinge fand er nicht. Sie schien überhastet geflohen zu sein.
Simon stieg aus, schrieb das Kennzeichen auf und schloss ab.
Er wollte schon zurückgehen, als sein Blick die Betonfassade streifte. Unvermittelt brachen die unterdrückten Erinnerungen hervor. Sein Herzschlag beschleunigte sich und seine Kehle schnürte sich zusammen. Nicht nur sein Vater war in diesem Krankenhaus gestorben. Eine Woche später hatte seine Mutter in diesem unansehnlichen Betonkasten ihren letzten Atemzug getan. Greta Baker hatte den Verlust ihres Mannes nicht verkraftet. In ihrer Verzweiflung hatte sie Tabletten mit Whiskey runtergespült. Als Simon sie fand, war kaum noch Leben in ihr. Die Ärzte hatten sie nicht retten können. Es wäre besser so, hatten sie ihm gesagt. Ein irreparabler Hirnschaden wäre nicht auszuschließen gewesen. Doch Simon hatte sich so verloren gefühlt, dass ihm eine behinderte Mutter allemal lieber gewesen wäre als keine.
Er war wütend auf sie gewesen und hatte Monate gebraucht, um ihr zu vergeben. Erst die Arbeit am Haus seines Vaters und die Freundschaft mit Lucian hatten ihm neuen Halt gegeben.
Simon schluckte die Erinnerungen herunter und holte tief Luft.
„Ein scheußlicher Bau. Der Architekt hätte sich ruhig mehr Mühe geben können.“ Simon schmunzelte, schaltete seine Gefühle auf ein Minimum und ging zurück ins Krankenhaus.
„Wie geht es ihr?“
Dr. Forrester sah auf. Sein Blick verhieß nichts Gutes.
„Schlecht! Sie weist erhebliche Verletzungen auf und hat massives Untergewicht. Sie sollten dringend herausfinden, wer sie ist. Die Rechnung wird nicht billig.“
„Das spielt keine Rolle. Erzählen Sie mir alles.“
„Im Grunde darf ich das nicht. Sie sind kein Angehöriger.“
„Ich bin der, der die Rechnung bezahlt. Erzählen Sie schon!“
Dr. Forrester seufzte und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett.
„Ihr Körper ist mit älteren und neuen Blutergüssen übersät. Der rechte Arm ist geprellt. Deshalb hatte sie Schmerzen, als Sie sie berührt haben. Auf die Röntgenbilder warte ich noch, aber ich rechne mit alten Brüchen. Die Misshandlungen gehen nicht erst seit ein paar Wochen. Sie hat Narben von Schnitten. Wobei ich nicht sagen kann, ob sie sich die nicht selbst zugefügt hat.“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Simon unwirsch. „Ein Mensch, der permanent gequält wird, wird sich kaum selbst verletzen.“
„Da irren Sie sich. Manchmal ist Schmerz der einzige Weg, um sich noch selbst zu spüren. Sie hat ein Martyrium durchlebt. Wenn ihre Verletzungen verheilt sind, muss sie dringend in psychologische Behandlung.“
„Wurde sie …“ Simon brachte es kaum über die Lippen.
Dr. Forrester verstand ihn auch ohne Worte. Er nickte. Simon glitt mit den Händen über sein Gesicht und knurrte ungehalten.
„Verdammtes Dreckschwein!“
„Da gibt es noch etwas. Sie hat an Hand- und Fußgelenken Abschürfungen, die von Fesseln herrühren. Ich glaube, dass sie gefangen gehalten wurde. Die Polizei ist bereits informiert. Sie kommen morgen Vormittag, sobald sie wieder ansprechbar ist.“
Wahrscheinlich war das die beste Lösung. Sollte Simon je herausfinden, wer ihr das angetan hatte, könnte das für den Kerl Konsequenzen der unangenehmen Art haben. Er warf einen letzten Blick auf ihr blasses Gesicht.
„Ich komme morgen wieder. Achten Sie gut auf sie.“
„Hier ist sie auf jeden Fall sicher. Ich werde den Schwestern Bescheid sagen, dass niemand zu ihr darf.“
Simon nickte. „Danke, Doc!“
Kapitel 2
Noelle erwachte, als sie berührt wurde. Sie zuckte zusammen und riss ihren Arm los. Gehetzt sah sie in freundliche, dunkle Augen.
„Ich bin Schwester Ina. Ich möchte nur Ihren Blutdruck und die Temperatur kontrollieren.“
Orientierungslos sah Noelle sich um. Sie lag in einem Krankenhausbett. Etwas Schlimmeres hätte ihr nicht passieren können. Wovon sollte sie die Rechnung bezahlen? Und ihre Verletzungen waren nicht zu übersehen. Jeder halbwegs gescheite Arzt würde die Polizei anrufen. Wenn Tom sie fand, würde er sie umbringen. Sie musste auf der Stelle hier weg.
Mit starrem Blick ließ Noelle die Berührungen über sich ergehen. Das freundliche Lächeln der Krankenschwester konnte ihre Angst nicht verdrängen.
Noelle glaubte, sich an einen Mann zu erinnern. Groß und autoritär hatte er vor ihr gestanden, doch seine Augen hatten
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