Noelles Demut
war, wusste Noelle nicht. Es würde auch zu viel Aufmerksamkeit erregen, wenn sie auf der Arbeitsstelle ihrer Freundin auftauchte. Also wartete sie verborgen im Schatten vor dem Haus.
Die Kälte kroch in ihre Glieder. Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde die Luft feuchter. Dankbar, den alten Anorak zu haben, kuschelte sie sich in den dicken Daunenstoff. Ihre Gedanken begannen sich selbstständig zu machen. Noelle wehrte sich dagegen, versagte jedoch kläglich. Immer wieder tauchte das Gesicht des fremden Mannes vor ihren Augen auf. Sie spürte seine starken Arme, die sie so sanft gehalten hatten. Für ein paar Sekunden hatte sie sich sicher gefühlt, bis die Dunkelheit über sie hereingebrochen war.
Sie hätte nicht warten sollen, hätte das Risiko, entdeckt zu werden, nicht eingehen sollen. Doch sie hatte den Mann nicht sich selbst überlassen können. Die blanke Angst war in ihre Knochen gefahren, als er sich würgend vor ihrem Wagen übergeben hatte. Mein Gott, wenn ihm nun etwas Ernsthaftes passiert wäre? Der Blick seiner Frau ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte so ängstlich ausgesehen. Nein, Noelle hätte es sich nie verziehen, wenn sie ihn nach dem Unfall alleingelassen hätte.
Wieder sahen sie diese sanften, braunen Augen auf sie herab. Er hatte sie schon im Gang beobachtet, als er noch keine Ahnung hatte, dass sie an dem Unfall schuld war. Was hatte er wohl bei ihrem verwahrlosten Anblick gedacht? Von ihrer einstigen Schönheit war nicht mehr viel übrig. In den letzten zwei Jahren war sie spindeldürr geworden. Der Glanz ihrer blonden, langen Haare war dahin. Tom hatte sie fast bewusstlos geschlagen, als sie ihre Haare abgeschnitten hatte. Noelle schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht an Tom denken, nie wieder. Und an den Fremden sollte sie auch nicht denken. Sie würde ihm ohnehin nie wieder begegnen.
Als Noelle aufblickte, sah sie Licht hinter dem Fenster ihrer Freundin. Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass Lydia unbemerkt an ihrem Versteck vorbeigelaufen sein musste. Seufzend stand Noelle auf, griff ihre Tasche fester und betrat das schicke Wohnhaus. Das schrille Klingeln ließ sie erneut zittern. Ihr Herz begann zu rasen, als sie Schritte hinter der Tür hörte. Die Wohnungstür schwang auf und Lydia sah sie erst überrascht, dann freudig strahlend an. Ehe sich Noelle versah, lag sie in Lydias Armen.
„Noelle, mein Gott.“ Lydia presste sie fest an sich.
Noelle schrie auf. Ihr ganzer Körper schmerzte. Entsetzt ließ Lydia sie los. In Noelles Augen traten Tränen. Die Anspannung der letzten Tage fiel von ihr ab, und sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Schluchzend, mit bebendem Körper stand sie vor ihrer Freundin und brachte keinen Ton über die Lippen.
Lydia zog sie vorsichtig am Arm in ihre Wohnung. Sie nahm Noelle die Tasche ab und schälte sie aus der dicken Jacke, die für die milden Temperaturen viel zu warm war. Das Entsetzen auf ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
„Mein Gott! Was ist mit dir passiert? Du bist ja nur noch ein Schatten deiner selbst.“
„Kann ich bei dir bleiben?“, flehte Noelle mit dünner Stimme. „Ich kann nicht zurück.“
„Natürlich bleibst du bei mir. Was ist denn das für eine Frage? Komm erst mal rein. Möchtest du einen Tee?“
„Hast du vielleicht was zu essen für mich?“
Lydias fassungsloser Blick machte Noelle noch bewusster, wie furchtbar sie aussah. Ihr fehlten mindestens fünf Kilo Gewicht, um gesund zu wirken. Ihre Augen hatten ihren strahlenden Glanz verloren, und die wunderschönen Locken waren verschwunden.
Vermutlich um sich selbst abzulenken, zog Lydia Noelle in die Küche, setzte sie auf einen Stuhl und begann, Eier in eine Pfanne zu schlagen. Wortlos bestrich sie Toastscheiben mit einer dicken Schicht Butter, legte Gurken- und Tomatenscheiben auf einen Teller und tat das Rührei dazu.
Noelle schlang das Essen regelrecht in sich hinein. Der Blick ihrer Freundin lastete dabei auf ihr. Das letzte Mal hatten sie sich vor zwei Jahren auf Noelles Hochzeit gesehen. Lydia hatte Tom Hamshir vom ersten Augenblick an unsympathisch gefunden, doch Noelle war damals bis über beide Ohren verliebt gewesen, und so hatte Lydia aufgehört, auf sie einzureden. Jetzt wusste Noelle, dass es ein Fehler gewesen war, nicht auf Lydia zu hören. Wenige Wochen nach der Hochzeit war der Kontakt zu ihrer Freundin abgebrochen. Lydia hatte sich einfach nicht mehr gemeldet, und Noelle war davon ausgegangen, dass sie nichts mehr
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