Noelles Demut
starke, selbstbewusste Frau. Geh da rein und hol dir, was dein ist!“
„Wie kommst du darauf, dass ich je selbstbewusst war?“
„Du bist es! Vor fünf Stunden hast du mich wegen ein bisschen Geld in Grund und Boden gestampft. Da wirst du es doch mit einem leeren Haus aufnehmen?“
Noelle sah an Simon vorbei und holte tief Luft. „Versprich mir eins: Wenn ich da drin zusammenbreche, schaff mich hier weg. Konfrontiere mich nicht damit. Ich bin nicht so stark wie du glaubst.“
„Ich bin an deiner Seite. Ich lass dich nicht allein.“
Mit langsamen Schritten stieg sie die Treppe zur Veranda hoch. Die Tür quietschte, als Noelle sie aufstieß.
„Das macht diese verfluchte Tür schon seit Monaten. Jedes Mal bin ich zusammengezuckt“, flüsterte sie vor sich hin. Im Haus war derselbe Geruch, dasselbe Licht, und doch wirkte alles anders als vor knapp zwei Wochen. Das war ein fremdes Haus, nicht mehr ihr Zuhause.
Flüchtig warf Noelle einen Blick in die Küche. Auf der Theke standen leere Flaschen. In der Spüle stapelte sich Geschirr. Ohne es zu bemerken, krempelte Noelle die Ärmel hoch und trat in den verwahrlosten Raum. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Auf dem Küchenboden war Blut. Das Messer lag etwa zwei Meter von der Lache entfernt. Hatte er allen Ernstes erwartet, dass sie zurück kam und sauber machte?
„Ich brauche das Messer. Ich muss den Messerblock mitnehmen. Den brauche ich im Marquis .“ Um sie herum fühlte sich alles unwirklich an, als würde sie einer Fremden zusehen.
„Ich mach das! Such du nach deinen Papieren.“ Noelle hörte Simons Stimme, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Wie gebannt starrte sie auf den Blutfleck. Erst als Simon vor sie trat und ihr die Sicht versperrte, konnte sie sich von dem Anblick loseisen.
„Nell! Komm! Wo ist dein Zimmer?“
„Ich habe kein Zimmer.“
„Wo sind deine Zeugnisse?“
„Im Schlafzimmer, versteckt unter dem Bettkasten.“
„Dann komm.“
Noelle ging mit zitternden Beinen auf die Tür am Ende des Flurs zu. Sie wollte hier nur noch weg. Schon auf dem Weg hierher war die alte Angst in ihr erwacht, hatte sich in ihren Eingeweiden eingenistet und verursachte ein heißes Brennen in ihrem Magen. Ihre Finger fühlten sich taub und eiskalt an, als sie die Klinke nach unten drückte und die Tür aufschwang.
„Dieses Schwein!“, spie sie aus, als sie das Chaos erblickte. Der gesamte Raum war mit Sachen übersät. Ihren Sachen! Schon von Weitem sah sie, dass Tom sie zerschnitten und zerrissen hatte. Noelle stürzte in den Raum und zog den Bettkasten so weit raus, dass sie ihn wegtreten konnte. Die Wut, die plötzlich und völlig überraschend in ihr brodelte, gab ihr genug Kraft, ihn vollends zur Seite zu schieben. Noelle hockte sich auf den Boden und krabbelte unter das Bett. Ihr Herz machte einen Satz, als ihre Finger eine lederne Mappe berührten. Triumphierend zog sie das letzte Kleinod, das ihr geblieben war, unter dem Bett hervor.
Sie setzte sich inmitten des Kleiderhaufens auf den Boden und schlug die Mappe auf. Alle Erinnerungen stiegen in ihr hoch, ganz so, als hätten die letzten zwei Jahre nicht existiert. Sie genoss diesen Augenblick des Glücks in dieser Höllenumgebung. Es war ein Luxus, den sie in diesen vier Wänden nie gehabt hatte. Als sie aufsah, stand Simon im Türrahmen und beobachtete sie mit unbewegter Miene.
„Sieh dir das an. Das sind meine Fotos aus Marseille, meine Kollegen und der da, das ist Frédéric. Er ist eine echte Nervensäge, aber ein fantastischer Koch.“
„Ist das alles, was du brauchst?“
„Hm?“ Noelle hielt ein Foto ihres alten Teams in der Hand. Tränen wollten in ihr aufsteigen, doch sie verdrängte sie erfolgreich. Trauer war etwas, das sie sich nicht leisten konnte. Sie musste die Freude festhalten.
„Hast du alle Papiere?“, fragte Simon sie schon wieder. Konnte er ihr diesen Moment nicht gönnen?
„Ja, ist alles da“, sagte sie unwirsch. Sie blickte auf und sah die Verwüstung um sich herum. Tom wird ausrasten, wenn er das sieht, jagte der Gedanke wie Säure durch ihr Hirn.
„Lass uns verschwinden.“
Noelle zuckte unter Simons befehlendem Ton zusammen.
Ich muss erst aufräumen , dachte sie und hob die Ledermappe in ihrer Hand hoch. Ein Bild rutschte auf ihren Schoß.
„Willst du die Fotos gar nicht sehen?“, fragte sie Simon.
„Nicht jetzt! Ich will hier raus!“
Er wirkte irgendwie angespannt. Sein Ton wurde immer schärfer. Trotz machte sich in Noelle
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