Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
Teufelsverbündeter. Schon im ersten Monolog beschreibt der Dichterfürst mit atemberaubender Pointiertheit, was das Deutschsein ausmacht: Was deutsch ist, leidet.
»Es möchte kein Hund so länger leben!«, nörgelt der Doktor erhaben und sprachgewaltig in seiner einsamen Kammer, und listet auch gleich die Hauptpunkte seiner Beschwerde auf: »Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß zu sagen brauche, was ich nicht weiß«, jammert er, und: »Weh! steck ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch.« Mit diesen Dichterzeilen definiert Goethe gekonnt und souverän die wichtigsten Nörgelthemen der Deutschen für alle Zeiten – unzumutbare Arbeitsbelastung und Unzufriedenheit mit der Wohnsituation.
Doch Goethe wäre nicht Goethe, wenn er nur an der Oberfläche kratzen würde. Nein, er steigt tiefer in die seelischen Abgründe des Idealnörglers hinab und fahndet nach den Urquellen des Unmuts. Warum jammert der Deutsche? Aus Hunger? Ach was. Seit dem Dreißigjährigen Krieg hat der Deutsche nicht mehr gehungert. Wegen der Unfreiheit des feudalen Systems? Wie denn? Als Lieblingsdichter der Fürsten hat Goethe von der Unfreiheit des feudalen Systems profitiert. Aufgrund von Krieg? Naturkatastrophen?
Nein: Der wahre Deutsche leidet daran, dass es ihm zu gut geht.
Faust stellt von Anfang an klar: Es gibt wenige Menschen auf Erden, die so klug sind wie er: »Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen, Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen«, sagt er. An gesundem Selbstbewusstsein fehlt es ihm offensichtlich nicht: »Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel.« Was harte Arbeit betrifft, so hat der Mann offensichtlich nicht viel Zeit hinter einer fettverschmierten Theke bei McDonald’s verbracht. Im Gegenteil, die schier endlose Zahl der Universitätsfächer, die er belegt hat, spricht dafür, dass er eher den Lebenswandel eines ewigen Studenten geführt hat: »Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn.« Dabei hat er mehr Titel eingeheimst als ein Langzeitstudent jemals könnte: »Heiße Magister, heiße Doktor gar.« Nein, ein Loser ist er nicht, eher ein Erfolgsmensch, ein Alphatier, ein mehrfacher Doktor, jemand, der in unserer Zeit in diversen hochdotierten Gremien sitzen würde, die von ihm nur verlangen, dass er einmal im Jahr auftaucht, oder besser noch, in den oberen Etagen des ZDF.
Mit Faust nimmt Goethe die gelangweilten Hollywood-Stars von heute vorweg, die ihrer existentiellen, ideellen Unzufriedenheit dadurch entgehen wollen, indem sie sich einer Sekte anschließen oder Babys in allen Farben adoptieren: »Ich armer Tor!« Kurzum: Faust hat alles erreicht, was er erreichen wollte, und genau deswegen leidet er auch bei lebendigem Leibe: »Das will mir schier das Herz verbrennen!«
In der Nörgelgeschichte der Literatur steht Faust als literarisches Meisterwerk einsam da. Alles, was vor ihm kam, führt zu ihm hin; alles, was nach ihm kam, feiert ihn. Er ist der Spiegel, den Goethe seinem Publikum vorhält.
Goethes wahres Genie im Erschaffen dieser Jahrtausendfigur wird erst recht deutlich, wenn man Faust mit anderen großen literarischen Jammerern der Weltliteratur vergleicht. Auch der von den Engländern so geschätzte Hamlet ist ein Moserer vor dem Herrn, doch schon da endet die Ähnlichkeit. Denn Hamlet beschwert sich nicht aus rein ideellen Gründen. Nein, Shakespeare hat seine beste literarische Figur geradezu mit berechtigten Gründen zur Klage überfrachtet:
Hamlet wird von einem Gespenst geplagt;
Hamlets Onkel hat dessen Vater umgebracht;
derselbe Onkel hat sich flugs zu Hamlets Stiefpapa gemacht;
seine Freundin Ophelia zickt rum, und
er weiß nicht, was er tun soll, und auch darunter leidet er.
Wie viel konsequenter und authentischer wäre es gewesen, wenn Shakespeares Held ohne jeden Grund unzufrieden wäre. Hätte Shakespeare nur den Mut gehabt, ohne jede Effekthascherei zu schreiben, und ein Werk verfasst, in dem kein Vater umgebracht und keine Ophelia verrückt geworden wäre! Um wie viel reicher wäre die literarische Welt, wenn Hamlet auf der Bühne stünde und sagen könnte:
Bin nun, ach! Prinz,
erfolgreich, wohlhabend,
erbe demnächst ein Königreich,
und bin leider auch gutaussehend,
die sexy Ophelia macht mir durchaus
Augen mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und finde alles genauso Scheiße wie zuvor.
4 . Pfannkuchenscheißer und
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