Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
allen Artus-Epen – in den französischen, den deutschen und den englischen – die gleiche Rolle: Er macht Ärger. Er verhöhnt die Helden, er führt König Artus an der Nase herum, er drischt auf die Damen ein und geißelt die Dummheit der Ritter, bis in dem Leser die brennende Frage aufkommt: »Warum schmeißt Artus diesen Typen nicht einfach raus?« Bezeichnenderweise ist es ein deutscher Dichter, nämlich Wolfram von Eschenbach, der allein den Mut hatte, auf diese Frage zu antworten: Keies Unart, alle zu nerven, liebe Leser, erfüllt eine wichtige Funktion am Hof, nämlich die, alle zu nerven.
Auch in Meister Pfriem setzten die Brüder Grimm einem Nörgler, Besserwisser und Rechthaber par excellence ein unvergessliches Denkmal, und in Kritik des Herzens beschrieb Wilhelm Busch den stillen Genuss sowie die sozialen Vorteile der Selbstkritik. Doch die bleibende Leistung der deutschen Nörgelkunst ist das eloquente Leiden.
In Nänie (Klage), beklagt Schiller das Vergehen der Schönheit. Mit seinem melancholischen Meisterwerk Kindertotenlieder vertonte der österreichische Komponist Gustav Mahler das Leid Friedrich Rückerts, der in seiner Trauer über den Tod seiner beiden Kinder sage und schreibe 428 Kindertotenklagen dichtete. Das Liebesgedicht gilt als Königsklasse der Dichtkunst, doch ein Liebesgedicht, das nicht das Leid der Liebenden hervorkehrt, ist schlicht Kitsch. Schon Walther von der Vogelweide verstand das Prinzip: »Ihre Liebe muss immer sein mein Herzensleid«, schrieb er. Und setzte noch einen drauf: »Manch einer klagt, dass sein Weib ›Nein‹ sagt – ich klage, dass mein Weib ›Ja‹ sagt.« Der Mann traute sich was für die Kunst.
Seit der erste Germane schreiben gelernt hat, wird in der deutschen Hochkultur gelitten, was das Zeug hält.
Kein Lächeln mehr, das nicht abrupt in einen Ausdruck des Horrors umgewandelt wird; keine Freude, die nicht enttäuscht wird; keine Hoffnung, die nicht scheitert. Alles andere verdient nicht das Kultursiegel. Ein Film mit einem Happy End ist Kitsch; ein Bild, das einfach ein Bild ist, ist kein richtiges Bild und ein bloß spannender oder witziger Roman ist naiv. Deutsche Kultur hat viele faszinierende Facetten, doch nur ein Thema: Leiden. Selbst in der populärsten aller Kunstrichtungen, dem Fernsehen, wird diesem Gesetz ausnahmslos gehorcht. Deutsche TV-Schauspieler kennen nur einen Ausdruck: Den des Bedenkens. Noch nie hat in einem Tatort eine Figur gelächelt, es sei denn, um Schmerz auszudrücken. Bestellt ein Kommissar Kaffee, spürt man seine Sorge. Drückt eine Frau ihre Liebe zu ihm aus, sieht man ihre Angst. Holt ein Assistent das Auto, weiß man schon: Irgendwo auf der Welt weint ein Kind.
Mit der Neuzeit erreichte die deutsche Nörgelliteratur neue Höhen: Man entdeckte die Kritik. Es war, als ob deutsche Dichter erst nach dem Fall des repressiven Kaiserreichs 1918 endlich frei atmen, denken, fühlen und alles sagen und tun konnten, was sie schon immer wollten. Und schon geigten sie allen die Meinung. Es entstand ein Krittelmeisterwerk nach dem anderen, von Im Westen nichts Neues bis hin zu Der Mann ohne Eigenschaften . Dann kam, worauf alle gewartet hatten, womit jedoch niemand mehr gerechnet hatte: Der Jammerhöhepunkt der deutschsprachigen Literatur wurde zu unseren Lebzeiten erreicht. Leider geschah es zwar nicht in Deutschland, glücklicherweise aber in der deutschsprachigen Literatur:
Im Abstand von nur 15 Jahren wurden die österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek geboren.
Diesen Meckerpoeten geht es nicht mehr um die gebildet-gehobene, wohlüberlegte, Kaffeekränzchen-gerechte Gesellschaftskritik, oh nein, es geht ihnen um grenzenlose, haltlose, rücksichtslose und gnadenlose Beschimpfung von allem und jedem.
Bernhards große Kunst bestand in der nörgelnden Superlative: Für ihn gab es nichts, was einfach nur schlimm war, alles musste gleich das denkbar Schlimmste sein – von Geburtstagsfeiern (»es gibt ja nicht Verlogeneres«) über die Wissenschaft (»das übelste Geschäft, das es gibt«) bis hin zum eigenen Tun: »Die Kunst ist das Höchste und das Widerwärtigste gleichzeitig«. Wer sonst hätte die unsterbliche Wahrheit aussprechen können: »Jeder ist an allem Schuld.« Niemand konnte eloquenter schimpfen als Thomas Bernhard.
Elfriede Jelineks Jammerpoetik besteht aus der Verzweiflung. Sie ist keine kritische Schriftstellerin im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr versteht sich von
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