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Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Titel: Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric T. Hansen
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selbst, dass alles schlecht ist; anstatt das jedoch groß auszubreiten, leidet sie einfach darunter mit einer atemberaubenden Selbstverständlichkeit.
    »Nachdem man die Frau jahrhundertelang auf ihre biologische Funktion festgelegt hat, kann man sie jetzt ganz abschaffen«, schrieb sie seufzend. »Wir finden Worte für das, was los ist, aber es bleibt folgenlos.« Selbst ihre Freude über die Verleihung des Nobelpreises, der sie über Nacht zur Millionärin gemacht hat, drückte sich in Bedenken aus: »Natürlich freue ich mich, da hat es keinen Sinn zu heucheln, aber ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude«.
    Doch die Geschichte des deutschsprachigen literarischen Lamentierens ist im Grunde nichts weiter als eine einzige Verneigung vor dem wahren Nörgelmeister Johann Wolfgang von Goethe.
    Schon als junger Dichter mit nur einer zarten Vision von einem späteren Gesamtwerk und kaum beschriebenem Papier baute Goethe seine literarische Strategie gezielt auf der Ästhetik des Jammerns auf.
    Bereits sein erstes Theaterstück Die Laune des Verliebten handelt von zwei jungen Damen, die sich die meiste Zeit genüsslich über Männer beschweren: »Du denkst, er liebe dich«, meint schon in der ersten Szene die eine Freundin zur anderen, »oh nein, ich kenn ihn besser!« Goethe hat als Erster die Durchschlagskraft von Geschichten erkannt, in denen Frauen herumsitzen und über Männer meckern und hat damit eine ganze literarische Gattung entworfen, deren zeitgenössischer Höhepunkt Sex and the City ist.
    Dass Goethe irgendwann über den brachialen Raubritter Götz von Berlichingen schreiben musste, war unvermeidlich. Keine andere historische Persönlichkeit hat eine so anerkannte und weit verbreitete Reputation als ewiger Mauler. Dieser Aspekt inspirierte den Dichter so sehr, dass er ihn in seinem Stück über alles schimpfen lässt, was Goethe als nörgelwürdig erschien, von den Mühlen der Bürokratie (»nun ergehn Verordnungen über Verordnungen«) bis hin zum Mobbing (»da ziehen sie nun um mich herum, verschwärzen mich bei Ihro Majestät und ihren Freunden und meinen Nachbarn, und spionieren nach Vorteil über mich«). Es zeugt von Goethes Voraussicht, dass ausgerechnet diese Themen den Nörgler von heute noch immer beschäftigen. Durch Götz schenkte Goethe der Welt und jedem Grantler das Killer-Argument schlechthin, mit dem man auch heute noch den Widrigkeiten des Lebens entgegentreten kann: »Leck mich am Arsch!«
    Es war nur eine Frage der Zeit, bis Goethe ein Werk schaffen konnte, in dem es – welch Ehrgeiz! – allein um Nölen geht: In Die Leiden des jungen Werthers macht der junge Held kaum etwas anderes als konsequent und unaufhörlich seine Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation auszudrücken. Mit diesem literarisch einmaligen Vorbild schenkte Goethe seiner Zeit eine neue Art der Problemlösung. Bis dahin mussten junge, unglücklich verliebte Männer überall auf der Welt nach der Abfuhr durch irgendeine eingebildete Zicke mit ihren Kumpeln einen saufen gehen, danach in den nächstbesten Puff und schon am nächsten Abend wieder auf die Pirsch auf der Suche nach einer anderen unerreichbaren Frau. Sie kannten nichts anderes, die Armen! Erst der Werther eröffnete ihnen eine Alternative zu diesem emotional einseitigen Verhaltensmuster. Fortan konnte jeder junge Mann, der eine Abfuhr erhielt, das Wirtshaus meiden und sich stattdessen konsequent zu Tode jammern.
    Wie viele junge Männer, von Werthers Beispiel beflügelt, den Jammertod gewählt haben, ist nicht bekannt. Schon zu Lebzeiten Goethes sprach man von einer gewaltigen Welle, obwohl Skeptiker darauf hinweisen, dass nur etwa in einem Dutzend dokumentierter Selbsttötungsfälle, die Opfer das Buch bei sich führten oder gar die Werther-Tracht trugen (blauen Tuchfrack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, Kniehosen aus gelbem Leder und einen runden, grauen Filzhut auf ungepudertem Haar). Dennoch sprechen Wissenschaftler heute bei einem Nachahmungsselbstmord vom Werther- Effekt.
    Als Herr von Goethe seinen vorläufigen Nörgel-Höhepunkt mit Die Leiden des jungen Werthers erreicht hatte, glaubten viele, seine literarische Karriere wäre beendet: Wie ließe sich eine solche Leistung noch steigern? Doch der Gipfel seiner Nörgelkunst sollte erst noch kommen.
    Mit Faust hat Goethe ein Sinnbild des deutschen Nörglers geschaffen, das heute noch gültig ist. Keine andere Figur drängt so tief in den Kern des deutschen Wesens wie Goethes

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