Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
›die Wälder der Erde werden immer mehr‹. Alles Fakten, die wahr sind. Aber wenn ich die Leute frage, ob sie das glauben, kommt immer die gleiche Antwort: ›Nein‹. Dabei ist unsere negative Einschätzung fast immer falsch. Unsere Welt wird immer besser. Es ist die Evolution. Die will es so. Vorübergehend kann etwas schiefgehen, aber es dauert nicht lange, und wir passen uns an. Das härteste Beispiel ist die Atombombe. Das ist ziemlich das Schlimmste, was der Mensch je erfunden hat. Aber seitdem gibt es weltweit so viel Frieden wie nie zuvor in der Geschichte. Die Menschheit passt sich der neuen Technologie an. Sie macht Fehler, aber wenn man keine Fehler macht, kann man nichts lernen. Dann geht es weiter.«
Das erinnerte mich an etwas, was die anderen Wissenschaftler gesagt hatten.
Ich hatte sie gefragt, ob sie wie ich der Meinung wären, dass die Deutschen einfach besorgter sind als andere Menschen. So wollten sie es zwar nicht ausdrücken, aber sie waren der Ansicht, dass die Nörgelei eine überdurchschnittlich wichtige Stellung in der deutschen Gesellschaft einzunehmen scheint.
»Ich glaube, das kommt daher«, hatte Gerhard Roth gesagt, »weil die Deutschen eher Stabilität suchen und dazu neigen, Risiken zu vermeiden, als etwas mutig anzupacken.«
Ist das Nörgeln ganz einfach eine deutsche Tradition wie der Stammtisch, der Sonntagsspaziergang oder die Halbglatze?
»Wenn man in einer Kultur groß wird, in der alle nörgeln, erzieht man sich selbst zum Nörgler«, räumte Gerald Hüther ein. »Es entsteht eine Bereitschaft, das Nörgeln zu übernehmen. Das ist ein kulturelles Phänomen.«
Gleichzeitig erklärte er, warum German Angst , wie er es nannte, auch ihre guten Seiten hat.
»Die deutsche Zukunftsangst kann manchmal auch vorteilhaft sein. Die Finanzkrise ist ein gutes Beispiel. Die Deutschen sind nicht ganz so schnell hinterhergerannt, sie haben immer mit erhobenem Zeigefinger gesagt, ›das geht zu schnell, das führt zur Katastrophe‹, und in diesem Fall hatten sie auch recht.«
»Aber wie kann ein ganzes Volk eine Tradition der Zukunftsangst kultivieren?«, fragte ich.
»Das ist die Frage. Warum sind die Deutschen kollektiv als Menschen, als Gesellschaft, so sehr nörgelnd unterwegs?« Hüther hatte zwar keine wissenschaftlich fundierten Beweise – da wird die Nörgelwissenschaft der Zukunft noch einiges bringen müssen –, aber eine private Theorie:
»Die Angst kann eigentlich nur aus der historischen Situation heraus entstanden sein«, sagte er. »Die deutsche Gesellschaft ist eine, die nie zu sich selbst gefunden, nie ein Selbstbewusstsein, eine innere Stärke aufgebaut hat. Die Deutschen hatten immer diese furchtbaren Kriege, angefangen mit dem Dreißigjährigen Krieg, durch den die zwei großen Religionen das Land mitten durch spalteten. Dann die schreckliche Kleinstaaterei, durch die die Deutschen den Anschluss an die moderne Welt und die internationale Entwicklung verpasst haben. Immer wieder mussten sie der Moderne hinterherrennen. Auch eine zeitgemäße Bildung und Industrialisierung mussten sie aus dem Boden stampfen. Es gab nie eine lange Tradition, wie in anderen Ländern, die Deutschen mussten sich alles Neue aufzwingen. Andere Länder hatten die Möglichkeit, sich mit etwas zu identifizieren, die Deutschen nicht. Selbst die Einheit wurde nicht natürlich gestaltet: Bismarck musste sie mit Blut und Schweiß erzwingen. Ähnliches war bei der Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und auch bei der Wiedervereinigung der Fall. All das konnte die Menschen nicht stark zusammenschweißen, und aus dieser Tendenz heraus wurden sie etwas zwanghaft. Auch die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit, dieser Kontrollzwang oder besser gesagt Perfektionismus, das ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Unsicherheit. Aus dieser Unsicherheit heraus kommt das zwanghafte Bedürfnis, an allem herumzunörgeln, anstatt es zu ändern.«
Aber beantwortet war meine Frage nach den Ursprüngen des Nörgelns damit noch lange nicht. Historische Prägung, schön und gut, aber die Deutschen, die ich kenne, sind nicht halb so stark von Zwängen, Pflichten und Sorgen getrieben, wie sie sich gerne geben. Viel eher davon, worauf sie Lust haben.
Marco Rauland ist Chemiker und Autor von Feuerwerk der Hormone – Warum Liebe blind macht und Schmerzen weh tun müssen . Als ich ihn in Köln erreichte, fragte ich ihn geradeheraus, ob es ein Nörgelhormon gibt. Ich war nicht wenig überrascht, als
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