Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
durch meine Arbeit womöglich ein weiteres Grundbedürfnis hinzu?
Ich sprang also ins kalte Wasser, nahm das Telefon zur Hand und rief die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universität Göttingen an. »Ist Nörgeln ein neurologisches Phänomen?«, fragte ich ohne Umschweife.
»Nein«, antwortete Gerald Hüther, Leiter der Zentralstelle, Professor für Neurobiologie und Autor des Buches Biologie der Angst. Wie aus Streß Gefühle werden . »Wer sind Sie?«
Ich nannte meinen Namen, bedankte mich und wollte schon wieder auflegen, als er ergänzte: »Allerdings gibt es einige archaische Notfallprogramme, die bei allen Säugetieren, also auch bei Ihnen, Herr Hansen, sehr tief im Hirnstamm verankert sind. Sie lösen zwar kein Nörgeln aus, aber man könnte sagen, dass das Nörgeln von ihnen gefärbt ist.«
»Wie bitte?« Ich hatte eine einfache Antwort erwartet.
Mit »archaischen Notfallprogrammen« meinte er vor allem drei Reaktionen auf Gefahren, die seit Urzeiten im Hirn vorprogrammiert sind. Bei einer extremen Gefahr entscheidet sich der Hirnstamm für eine davon: Angriff, Flucht oder ohnmächtiges Erstarren. »Herummosern gehört nicht dazu«, präzisierte Hüther, »aber es hat schon entfernt etwas mit ohnmächtigem Erstarren zu tun, und Schimpfen, kann man sagen, hat einen Hauch von Angriff.«
»Wenn Meckern nicht neurologisch-biologisch ist, woher kommt es dann?«
»Nörgeln ist zunächst eine Bewältigungsstrategie«, sagte er. »Man erlebt etwas, was unangenehm oder belastend ist. Vielleicht macht es einem auch ein bisschen Stress oder Angst. Es ist keine akute Gefahr, aber es ist etwas, was man nicht unbedingt machen will.«
Wenn ich mich mit einer Sache auskenne, dann mit Belastungssituationen. »Zum Beispiel, wenn ein Autor im Verlag anrufen und mitteilen muss, dass das Manuskript nicht ganz pünktlich fertig sein wird?«, fragte ich nach. »Oder dieses ohnmächtige Erstarren, das einen Mann befällt, wenn er zu lange in der Warteschleife von gewissen billigen und unfähigen Telekommunikationsdienstleistern rumhängt?«
»Das ist eine Belastung«, bestätigte Gerald Hüther. »Darauf reagiert der Mensch mit einer Bewältigungsstrategie. Die richtige Strategie wäre, das Problem zu lösen. Aber wenn man das nicht kann, jammert man, in der Hoffnung, dass jemand anderes Mitleid hat und das für einen übernimmt.«
»Aber woher kommt das?«, bohrte ich weiter.
»Nörgeln wird erlernt«.
Hoppla! Damit wären wir in einem neuen Bereich. »Jetzt sind wir bei … Psychologie? Soziologie?«
»Nörgeln findet nur in sozialen Gemeinschaften statt, in denen man mit solchen Appellen Erfolg haben kann«, bemerkte er. »In der frühen Kindheit sieht man das am besten – das Nörgeln der Kinder ist am reinsten. Sie meckern noch nicht über Merkel oder Obama, sie haben unmittelbare Gründe für ihre Quengelei. Es ist der Versuch, Mitleid zu erzeugen und Zeit zu schinden, damit man eine Aufgabe nicht machen muss. Das Kind soll den Müll rausbringen, also jammert es so lange, bis die Mutter sagt: ›Ich halte das nicht aus, ich mach’s lieber selbst.‹ Zum Nörgelnlernen braucht man eben so eine Mama.«
Warme Erinnerungen wurden in mir wach. Ich dachte an meine Mutter, an unseren traditionellen samstäglichen Kampf über die Frage, wer von uns beiden wohl den Rasen mähen würde. Am Ende war ich zwar jedesmal der Verlierer gewesen, aber vorher hatten wir uns einen Nörgelkampf geliefert, der sich von Samstagmorgen bis Sonntagnachmittag hinzog. Das war’s, was zählte. Da habe ich eine Menge gelernt. Zum Beispiel mit völlig aus der Luft gegriffenen Argumenten Zeit zu schinden, wenn ich muss. Oder mit fulminanten Gegenthesen vom Thema abzulenken. Eigentlich verdanke ich ihr meine Schriftstellerkarriere, wenn ich ehrlich bin.
»Herr Hansen? Sind sie noch da?«
»Entschuldigen Sie, Herr Hüther, ich war kurz abwesend.«
»Wenn ein Kind immer wieder damit durchkommt«, sagte er, »wird das Nörgeln als erfolgreiche Verhaltensweise bei jedem Mal immer fester in ihm verankert. Man wird auch ein immer besserer Nörgler. Dadurch lernt man auch Hilflosigkeit. Der Nörgler ist hilflos. Je häufiger man mit dem Quengeln als Kind Erfolg hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass man sein ganzes Leben lang nicht die Aufgaben zu erfüllen versuchen wird, die vor einem liegen, sondern, dass man nur darüber meckert.«
Schon durch ein einziges Telefongespräch hatte ich zwei Ursachen des
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