Noir
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Prolog II Das Sterben
A lexej Sorokin hatte eine Kindheit mit fünf älteren Brüdern und einem trinkenden Vater überstanden, drei Magengeschwüre, eine fehlgeschlagene Flucht aus der DDR und zwölf Jahre mit seiner ehemaligen Schwiegermutter, und nach all diesen Schicksalsschlägen hätte er nie gedacht, dass er an einem sonnigen Juninachmittag in einem Auto sterben würde. Er hatte noch nie einen Unfall gebaut. Nicht einmal in den fünf Jahren, die seine zweite Frau nun schon neben ihm saß.
«Musst du ewig provozieren! Weißt du genau, Katjuscha ist VE - GE - TA - RI - ER - IN !» Lucia schlug bei jeder Silbe die flache Hand auf ihren Oberschenkel. Sie war Opernsängerin, ihre Stimme war auf Lautstärke trainiert und besaß den Nachdruck eines Schlaghammers. In solchen Augenblicken dachte er manchmal an die Affäre, die er kurz nach seiner Scheidung gehabt hatte, eine anämische Violinistin von asiatisch anmutender Schweigsamkeit, die nicht einmal etwas gesagt hatte, als er sie für den Westen verließ. Sie hatte ihm bloß eine Grußkarte gegeben, mit ihrer sorgfältigen Unterschrift unter dem Abschiedsgedicht. Die Reize ihres Charakters offenbarten sich ihm erst viele Jahre später.
«Deine Tochter wird das nicht essen, was du da –»
Alexej bremste scharf ab, als ein Mercedes ohne zu blinken die Spur wechselte. Entrüstet über den Mercedesfahrer, entrüstet, dass so jemand ein solches Gefährt besaß, während sein eigenes Pianistengehalt kaum für das Benzin des gebraucht gekauften Fiats reichte, und entrüstet über Lucia, die ausgerechnet jetzt seine Vaterqualitäten diskutieren musste, fluchte er ausgiebig und überholte den Mercedes mit einem waghalsigen Schlenker.
«Mein Gott!» Lucia presste sich eine Hand auf die Brust und drehte sich demonstrativ zu Nino um. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte Alexej jedoch, dass ihr Sohn völlig unbeeindruckt vom Geschehen aus dem Fenster blickte. Dass im Auto gestritten wurde, war schon so etwas wie Familientradition.
«Lass deine Wut bitte nicht auf die Straße raus.»
«Welche Wut? Ich bin ruhig!»
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Eine Weile knirschte Alexej mit den Zähnen. Es war hoffnungslos, mit Lucia zu streiten. Sie verstand es nicht. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, die eigene Tochter erwachsen werden und ins Verderben stürzen zu sehen. Dennoch konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen: «Ich habe jedes Recht, wütend zu sein. Mein Kind ist einer Sekte zum Opfer gefallen.»
«Es ist keine Sekte, es ist eine Wohngemeinschaft.» Sie bohrte ihren Finger in das heiße, in Alufolie gewickelte Paket auf seinem Schoß. «Und da will niemand Pelmeni mit Schweinefleisch!»
«Kein Fleisch, als wäre das ihre Idee gewesen, die reinste Gehirnwäsche!»
«Wie kommst du bloß darauf, dass es eine Sekte ist?»
«Hast du mal diese Ketten gesehen, die die tragen? Diese, diese Muscheln und Steine?»
«Ja, und? Das ist jetzt Mode so.»
Er schlug die Handfläche aufs Lenkrad, dass ein Hupen erklang. «Tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass es Lesben sind!»
Stille trat ein. Alexej schoss das Blut ins Gesicht. Er hatte es bis jetzt nicht ausgesprochen. Dabei hatte er doch überhaupt nichts gegen diese Leute, wirklich nicht. Nicht mehr als gegen die pubertierenden Lüstlinge, die seiner Tochter bisher nachgestiegen waren.
Lucia reckte sich auf ihrem Sitz. Mit eisiger Stimme befahl sie: «Halt jetzt an. Wir kaufen einen Strauß Blumen e Dolci und werfen das Fleisch weg, basta.»
«Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass Katjuscha in diesem Alter noch nicht – jetzt lass – lass die Pelmeni –»
Während Lucia und Alexej um die gefüllten Teigtaschen kämpften, entdeckte ihr Sohn auf dem Rücksitz die Welt.
Nino war fast fünf Jahre alt, das wusste er, auch wenn er das Ausmaß dieser Zeit nicht begriff. Sonst hätte er sich womöglich gewundert, so wenig von seinem bisherigen Leben mitbekommen zu haben. Aber er dachte nicht an die Vergangenheit, die Gegenwart war viel spannender.
Seine blaue Jacke hatte einen grauen Reißverschluss, der exakt dieselbe Farbe hatte wie der Gurt des Kindersitzes. Er hatte nach weiteren farblichen Übereinstimmungen zwischen ihm und seiner Umgebung gesucht und mehr Beweise für die schicksalhafte Richtigkeit seiner Existenz entdeckt: Der Stadtplan, der aus der Sitztasche vor ihm lugte, hatte eine Vorderseite im selben Rotton wie seine Schnürsenkel – wenn er
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