Noir
so ungeschickt an, dass sie sich in meinem Griff lösen. Die letzten, die mir bleiben, ein kleiner Finger und ein Ringfinger, sind zerdellt und fallen schließlich auch noch ab.
Ich sitze da und starre auf die Stümpfe, die einst Hände waren. Amoke ist irgendwann auf eine Landmine getreten. Ihr Geist trägt die Verstümmelungen für sie.
Ich will schreien, ich will etwas sagen, um das Geschehene zu fassen, aber es gibt keine Worte dafür. Alles dreht und verbiegt sich. Ich fühle mich, als würde ich in mir schrumpfen. Nichts sitzt mehr fest. Ich werde Glied für Glied verlieren, und wie soll ich dann noch für Noir da sein? Wie soll ich, wenn alles erschlafft, sich löst und nicht mehr –
Noir wirft sich auf mich, und ich stürze unbeholfen in die Kissen. Alles ist viel zu weich, übelkeiterregend weich und schwammig.
«Nino. Du musst aufwachen!»
Ich wache auf. Mein Herz tut weh vom Pochen. Ich spüre meinen Körper, meine Rippen, meine unheimlich schweren Beine und Arme. Meine Finger krallen sich in die Matratze. Es war nicht echt.
«Es ist nicht real», wiederholt Noir und streichelt meinen Kopf. «Es war nur ein Traum.»
«Ich habe nicht geschlafen.»
Sie küsst meine Wangen und Ohren, bis ich mich beruhige. «Ich weiß.»
Als ich mich aufrichte, sehe ich, dass auf dem Schreibtisch ein Dutzend abgebrochener Bleistiftminen liegt. Auf dem Block ist ungeschicktes Gekrakel.
Vielleicht kann ich nicht mehr zeichnen, vielleicht konnte ich es nie.
Den Blick auf meine Hände gerichtet, frage ich Noir, was sie geträumt hat, obwohl ich es ja weiß. Was ich eigentlich meine, ist, welche Schlüsse sie aus ihren Träumen zieht. Deutlicher als sonst spüre ich, dass der Inhalt unseres Gesprächs nicht so wichtig ist wie die Tatsache, dass wir die Stille überhaupt mit uns selbst füllen.
«Mein Haus ist nicht in der Stadt. Man kann vom Esszimmer aus einen Wald sehen und ein Feld. Im Frühjahr und Sommer gibt es Kaulquappen in der Nähe.»
Ich nicke, weil ich sonst nichts beizusteuern habe. Die Knöchel meiner Hände sehen ganz robust aus. Die Adern wie gute Stromkabel.
Mit siebzehn habe ich mich einmal mit zwei Polizisten geprügelt, als sie mich beim Sprayen erwischten. Meine Fäuste waren Waffen. Ich war einmal stark, ich weiß das, aber was hat mein altes Ich überhaupt noch über mein jetziges auszusagen?
Draußen ist es bereits dunkel. Wir haben Hunger, Noir ist ganz außer sich, dass sie diese «Sehnsucht im Bauch» hat. Als ich sie frage, worauf sie Appetit hat, beginnt sie fieberhaft nachzudenken und kaut an ihren Fingernägeln. Ich weise sie darauf hin; auf diese Eigenschaft, die zu ihr zurückgekehrt ist, und wir lächeln wie werdende Eltern, deren Kind im Mutterleib zum ersten Mal tritt.
Arm in Arm spazieren wir aus dem Hotel. Sie passt perfekt an meine Schulter, wie Knochen und Gelenk gehören wir zueinander.
In der Nähe gibt es keine Restaurants, aber das macht nichts. Wir laufen lange durch die Straßen und sehen uns um, obwohl es nicht viel Schönes zu sehen gibt. Das STYX dämpft alle schlechten Gefühle.
Schließlich kommen wir in eine Touristengegend und finden dort ein schummriges, mit Jazzmusik erfülltes Café. Wir bestellen Zwiebelsuppe und teilen uns eine Flasche Rotwein. Der Alkohol macht mich schwermütig und verschmiert die vom STYX scharfgestochenen Wahrnehmungen zu einem Sumpf aus eben verstrichenen Momenten. Wir zahlen mit dem Bargeld, das ich noch besitze, und laufen weiter. Inzwischen ist es Nacht und bitterkalt. Ich sehne mich nach Schlaf, aber wir verlaufen uns auf dem Weg zurück und können niemanden nach dem Hotel fragen, weil wir vergessen haben, wie es heißt. Fast durch Zufall finden wir es wieder, schließen uns im Zimmer ein und sinken ins Bett. Noir kuschelt sich an mich, und heute Nacht reicht ihr das, und ich muss kein STYX nehmen, sodass mich die Müdigkeit in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinabzieht.
Erst in den frühen Morgenstunden wird ihr Körper so kalt, dass ich davon wach werde, und ich nehme die gewohnte Dosis.
Stromschläge donnern in der Dunkelheit. Ich stürze ins Wachsein, als der Lärm gerade verebbt. Hat es wirklich Lärm gegeben? Jetzt ist nur noch mein Atem zu hören.
Noir schläft neben mir, gebettet in Rauchschwaden ungreifbarer Erinnerung, und ich löse mich aus ihrer Umarmung und stehe auf. Die Schläge kamen aus dem Badezimmer – falls sie keine Einbildung waren. Ich knipse das Licht an und erwarte fast, dass die Lampe über
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