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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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er sich auf den Wannenboden und ließ zu, dass Noir ihn aufnahm.
    Kleine Sturzbäche rannen von Noirs Lippen und Ohrläppchen und ihren Augen auf ihn nieder. Ihre Haut war fest und resistent gegen die Hitze des Wassers. Sie nahm seine Hände und schmiegte ihren Kopf, ihre Körperrundungen hinein. Da erst wurde sie weich und wärmer.
    Schließlich kauerte sie erschöpft auf ihm, und Nino drehte den Wasserhahn ab. Ihre Küsse waren kleine Dankbarkeiten, verteilt auf die winzigen Wüstenregionen seines Nackens. Nino fischte das Handtuch vom Ständer neben dem Waschbecken und hüllte sich und sie in Frottee.
    Sie mussten die Leichen nicht entsorgen. Jetzt, wo ihm der Gedanke kam, merkte er, dass ein Teil seines Verstandes sich die ganze Zeit schon damit beschäftigt hatte, was zu tun war.
Wir müssen die Leichen nicht entsorgen.
    Sie konnten das Hotel einfach verlassen. Sie hatten nicht eingecheckt, nirgendwo stand sein Name. Warum sollten sie die Leichen woanders hinbringen? Es war ein unmöglicher und unnötiger Aufwand.
    Alles, was sie zu tun hatten, war, so schnell wie möglich zu verschwinden. Die Schüsse waren laut gewesen, es war ein Wunder, dass noch niemand gekommen war. Selbst wenn sich im ganzen Stockwerk keine anderen Gäste befanden, irgendein Hotelangestellter musste doch etwas gehört haben.
    Noir war auf ihm eingeschlafen. Sie kam ihm schwerer denn je vor, als er sich erhob und aus der Wanne trat. Wohin mit ihr? Er wollte sie nicht wecken. Einzige Wahl war das Bett.
    Einen langen Moment stand er vor der Badezimmertür und versuchte sich dazu zu bringen, den Griff hinunterzudrücken. Er hatte Angst. Die Angst schwoll hinter den Wällen des STYX an wie eine Flut.
    Mit einem heftigen Ausatmen öffnete er die Tür und trat ins Zimmer.
    Inzwischen war es taghell. Der Lärm der vierspurigen Straße durchdrang das Fenster, als wäre es nur eine Duschwand. Die Scherben des Spiegels glänzten wie Wasserpfützen auf dem Teppich.
    Die Leichen waren verschwunden.
    Nino stand da, tropfte aus den Haaren und hielt Noir unter dem Handtuch wie ein großes Kind.
    Die Leichen sind verschwunden.
    Dort, wo der Spiegel gehangen hatte, zeichnete sich ein unberührtes Viereck auf der Tapete ab.
    Die Leichen –
    In der Luft hing eine Ahnung von Benzin und Zigarrenrauch.
     
    Die Fenster waren geöffnet, gegen den Gestank, aber er verflog nicht, im Gegenteil, die Luft von draußen schien noch erfüllter davon zu sein als hier im Zimmer.
    Noir schlief. Wie ein Wesen, das nur manchmal seinen Körper im Diesseits bewohnt und die übrige Zeit in einer anderen Welt, in vielen anderen Welten womöglich, verbringt.
    Er saß am Fenster. Trank Wasser. Wartete. Ihre Kleider waren bereits ausgewrungen und zum Trocknen im Bad aufgehängt.
    Das Leben geht weiter, immer. Das ist das Schreckliche am Tod.
    Noch einmal das ganze Hotelzimmer durchsucht. Keine Spuren.
    Es gibt keine Spuren, und du musst verstehen, warum; wo du hier gelandet bist und wo deine Geschichte beginnt – aber je länger du darüber nachdenkst, je länger du durch die Vergangenheit watest, umso weniger scheint etwas zusammenzuhängen. Als du fünf warst, starben deine Eltern wie in einem Superheldencomic, du hast mit sechsundzwanzig Schrauben in Schädel, Schlüsselbein und Schulter überlebt wie ein Superheld, du hast auch deinen aufgeschlitzten Unterarm überlebt, hast
dich
überlebt. Immer wieder. Auch jetzt. Wozu? Du weißt es nicht.
     
    Noir erwachte bald darauf.
    «Hallo.» Ihre Stimme war noch rau vom Schlaf. Behaglichkeit, dann der Schreck in ihren Augen. Sie erinnerte sich, und die Hoffnung, alles nur geträumt zu haben, zerfiel.
    «Wir haben sie –» Sie fuhr auf, sah sich im Zimmer um. Der zerbrochene Spiegel, das offene Fenster, durch das der Straßenlärm drang.
    «Wir sollten gehen. Vielleicht hat doch jemand die Schüsse gehört.»
    «Warum hast du mich schlafen lassen?»
    Ihre Verwirrung über das Verschwinden der Leichen legte sich schnell wieder. Immerhin war sie es gewohnt, dass die Wirklichkeit ihre eigenen Regeln brach.
    Sie stahlen sich unbemerkt aus dem Hotel und ließen den Maserati einfach stehen. Zu auffällig. Viel zu auffällig.
    Nino hatte ein merkwürdiges Gefühl, als würde ihm etwas fehlen. Er selbst war ihm abhandengekommen, und plötzlich war da eine große Leere in ihm, die mit etwas gefüllt werden wollte.
    Statt auf einen Bus zu warten, hielten sie ein Taxi an. Der Fahrer war Maghrebiner. Er sprach französisch, aber Nino

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